Das Recht auf Stadt und die Kunst

Reflexionen zum Verhältnis zwischen stadtpolitischen Aktivismus und künstlerischer Praxis – Einleitung zum Schwerpunkt

Rainer Midlaszewski

Berührungen zwischen urbanen Bewegungen und Kunst hat es immer gegeben. Die Künstler:innengruppe »Situationistische Internationale« begründete in den 1960er Jahren mit ihrem Konzept des Umherschweifens (le dérive) die „Psychogeographie“. Methoden des Zufalls sollten neue Erfahrungen des städtische Raums an der Schnittstelle zwischen Kunst, Architektur und Aktivismus ermöglichen.

Auch in urbanen Revolten entstanden produktive Wechselwirkungen zwischen Künstler:innen und Aktivist:innen. Sie bestimmten die Ästhetik und Kommunikation von Bewegungen und zeitgenössischer Kunst und konnten weit über subkulturelle Milieus hinaus auch den Mainstream erreichen. Ein schönes Beispiel sind die sogenannten „Züricher Jugendunruhen“ 1980/81, in deren Fokus die Auseinandersetzung um ein autonomes Jugendzentrum (AJZ) standen. Mit der Parole „Weg mit dem Packeis!“ kritisierte die Bewegung die Kälte und Erstarrung in der Stadt. Die Schweizer Band »Grauzone« ironisierte sie in ihrem Lied „Eisbär“ (1980). „Eisbär’n müssen nie weinen“, weil es im nördlichen Polarkreis kein Tränengas gibt.

In den letzten Jahre sind viele künstlerische Praktiken entstanden, die an urbane Interventionen Sozialer Bewegungen anknüpfen und auf das Recht auf Stadt verweisen. Sie werden oft mit viel Wortgeklingel bedeutungsvoll aufgeladen. Aber greifen sie auch konflikhaft in stadtpolitische Auseinandersetzung um Wohnen, Vertreibung, Raumaneignung oder das Fehlen demokratischer Strukturen ein? Machmal entsteht der Eindruck diese Art künstlerische Interventionen sind nur eine folgenlose Simulation von Aktivismus.

Ist das so? Welche Erfahrungen machen Aktivist:innen bei der Kollaboration mit Künstler:innen und umgekehrt? Wo entstehen kreative Überschüsse, die eine Bewegung in der Stadt unterstützen, neue Sichtweisen ermöglichen oder neue Methoden bereitstellen? An welchen Stellen entwickeln Aktivist:innen selbst künstlerische Methoden oder werden Künstler:innen zu Aktivist:innen? Oder macht gerade das verschwimmen dieser Grenzen den besonderen Reiz aus? Gibt es eine „Autonomie der Kunst“, die uns zu stadtpolitischen Themen bisher ungefragte Antworten gibt? Weil sich diese Fragen nicht eindeutig beantworten lassen, ist unser Schwerpunkt dieses Mal ein bunter Blumenstrauß von Beiträgen, die das Thema eher umtanzen und allenfalls seine Vielschichtigkeit abbilden.

Die Journalisten und Aktivisten Niels Boeing und Christoph Twickel blicken zurück auf das vor 15 Jahren von Künstler:innen und Kreative in Hamburg veröffentlichte Manifest „Not in Our Name, Marke Hamburg“ – eine Intervention gegen die neoliberale Stadtentwicklungspolitik.

Das Gespräch mit der Künstlerischen Leiterin von »Urbane Künste Ruhr« Britta Peters gibt Einblicke in das Verhältnis von Kunst und Aktivismus aus der Perspektive eines offiziellen Kunstbetriebs.

Janika Kuge erzählt die konflikthafte Gestaltungs- und Nutzungsgeschichte des öffentlichen Raums „Platz der alten Synagoge“ in Freiburg als eine „Kunst des Nebeneinanders“.

Jakob Wirth ist sowohl in der Recht-auf-Stadt-Bewegung als auch in der Kunstszene zuhause und reflektiert seine:ihre Doppelrolle als Künstler:in und Aktivist:in.

Carla Remotius wirft in ihrem Beitrag über den einfallsreichen und kreativen Aktivismus von »MyGruni« gegen die „Wohlstandsverwahrlosung“ im Villenviertel in Berlin Grunewald die Frage auf „Ist das noch Protest oder schon Kunst?“


Autor

Rainer Midlaszewski ist Teil der Común-Redaktion.


Titelbild

„Zürich Eiszeit“ (1975, Gouache auf Pavatex, 90 x 120 cm) von Giuseppe Reichmuth (*1944). Das fotorealistisch gemalte Bild drückte die Stimmung in Zürich Ende der 1970er Jahre aus. Das ikonische Bild hing in vielen Wohngemeinschaften als Plakat.


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