„Der Weg ins Offene“

Ein Gespräch mit der Künstlerischen Leiterin von »Urbane Künste Ruhr« Britta Peters über das Verhältnis von Kunst und Aktivismus

Interview: Rainer Midlaszewski

»Urbane Künste Ruhr« initiiert von Bochum aus Kunstprojekte in den Städten des Ruhrgebiets. Finanziert vom Land Nordrhein-Westfalen und dem Regionalverband Ruhr soll die Institution einige der künstlerischen Aktivitäten der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 fortsetzen. Rainer Midlaszewski von der Común-Redaktion sprach mit der Künstlerischen Leiterin Britta Peters über das Verhältnis von Kunst und Aktivismus sowie den Erkenntniswert von Kunstproduktionen.


Rainer Midlaszewski: Im Rahmen des Projekts »Healing Complex«, das seit 2018 eine ehemalige Kirche in Gelsenkirchen als Begegnungsstätte nutzt, organisierte die Künstlerin Anne Arndt Stadtspaziergänge. Anwohner:innen waren eingeladen, mit ihr gemeinsam den Stadtraum neu zu entdecken und ihr Wissen darüber zu teilen. Die Methode erinnert an die Praxis des Umherschweifens der politischen Künstler:innengruppe »Situationistische Internationale«, wodurch sie das, was Stadt ist oder sein könnte, erfahren wollte. Vor 60 Jahren entwickelte sie die sogenannte „Psychogeographie“. Die Methode wird heute von Aktivist:innen der »Recht auf Stadt-Bewegung« zum Beispiel in Form von Stadtrundgängen angewendet und ist inzwischen in Stadtplanung und Wissenschaft angekommen. Was leistet Kunst hier? Wird Kunst hier zu Aktivismus oder simuliert sie ihn nur?

Britta Peters: Die Stadtspaziergänge, die Anne Arndt gemacht hat, waren schon sehr politisch, gleichzeitig aber auch performativ und recherchebasiert. Sie ist dabei zum Beispiel auf ein ehemaliges Zwangsarbeiter:innenlager in Gelsenkirchen-Erle gestoßen, das wenig bis gar nicht ausgewiesen ist und heute in einen Fußballplatz übergeht. Insofern können künstlerische Forschungen mit einem eigenen Ansatz historische Forschungen ergänzen oder ein neues Licht auf bestehende Zusammenhänge werfen. Egal, wie man sich einem Stadtraum annähert, wichtig ist, die verschiedenen Layer an Geschichte und auch an problematischer Geschichte zu lesen und sie sich bewusst zu machen. Kunst im öffentlichen Raum hat auf jeden Fall das Potenzial, die Wahrnehmung zu verstärken und für die Umwelt zu sensibilisieren.

Inwiefern kann sie hier auch Veränderungen erwirken?

Alles, was uns umgibt, die gebaute Umgebung, muss ja nicht zwangsläufig so sein, wie es ist, sondern beruht auf Entscheidungen von vielen Generationen von Entscheidungsträger:innen, die bestimmte Weichen gestellt haben. Es ist dann der erste Schritt zur Selbstaktivierung zu merken: Es ist alles menschengemacht, und was von Menschen gemacht ist, kann auch von Menschen verändert werden.

Das ist natürlich eine andere Form von Aktivismus als beispielsweise bei dem Projekt »Park Fiction« in Hamburg, wo mit künstlerischen Mitteln ganz klar für ein Ziel gekämpft wurde: eine Luxusbebauung am Elbufer zu verhindern und mit dem Park öffentlichen Raum zu schaffen. Oder bei der »Planbude«, bei der sich Künstler:innen, Stadtplaner:innen und Nachbar:innen direkt in die Planung der Neubauten – anstelle der ehemaligen Essohäuser – in der Nähe der Reeperbahn eingebracht haben. Das ist eine Ebene, die sehr viel zielgerichteter ist, wenngleich künstlerische Mittel eine große Rolle spielen. In diesem Umfeld um die Künstler:innen Christoph Schäfer und Margit Czenki wurde auch der Freud’sche Begriff der „Wunschproduktion“ aufgegriffen. Das ist etwas anderes als eine angewandte Stadtplanung, die auch ihre Bürger:innengespräche hat. Bei der „Wunschproduktion“ geht es darum, verschüttete Begehren zu wecken.

Oft wird bei solchen Kunstaktionen das Performative betont: Ein besonderer Augenblick entsteht und verschwindet dann wieder. Menschen werden zusammengebracht, teilen ihre Eindrücke und ihr Wissen und gehen wieder auseinander. Gab es bei den Stadtspaziergängen ein nachhaltiges, bleibendes Ergebnis?

Die Spaziergänge wurden filmisch und fotografisch dokumentiert, aber danach müssten Sie Anne Arndt am besten selbst fragen. Ich glaube, es sind viele Beziehungen entstanden, die Anne auch weiterhin pflegt, mit Menschen, mit denen sie besonders in Berührung gekommen ist. Ansonsten ist die Frage, was eigentlich „nachhaltig“ in Bezug auf Kunstproduktion bedeutet, etwas schwieriger zu beantworten als beispielsweise innerhalb der Ökologie, wo es bestimmte Kriterien gibt.

Auch eine konkrete Erfahrung kann sehr nachhaltig sein, etwa ein soziales Miteinander, das bei einem Spaziergang mit ganz unterschiedlichen Menschen kurzfristig hergestellt werden kann. Ansonsten ist bei einem performativen Projekt die Flüchtigkeit ein Teil der Form.

Die stadtpolitische Gruppe, in der ich selbst aktiv bin, formuliert in ihrem Selbstverständnis: Wir machen Realpolitik mit utopischem Überschuss. Das bedeutet, in unseren Aktionen, Forderungen und Positionierungen, die sich auf konkrete Veränderungen im Hier und Jetzt beziehen, soll immer auch die Möglichkeit einer ganz anderen zukünftigen Welt erkennbar sein. Gibt es bei »Urbane Künste Ruhr« auch einen künstlerischen Überschuss? Kann die künstlerische Bearbeitung von Themen einen „Mehrwert“ schaffen und, wenn ja, was wäre der?

Auf jeden Fall! Häufig stellt die künstlerische Beschäftigung mit einem Ort oder mit einem Thema per se bereits einen Überschuss her und schafft einen Mehrwert gegenüber dem, was vorher da war. Denn sie zeigt, dass die Dinge auch ganz anders und idealerweise besser sein könnten. Wenn Sie jetzt aber nach konkreten Themen fragen: Mit der Ausstellung »Ruhr Ding: Klima« 2021 haben wir uns zum Beispiel dem Thema Klima gewidmet, vom sozialen Klima bis zum ökologischen Klima. Wir sind ja rein ökologisch gesehen an einem Punkt, an dem man Sorge haben muss, dass sich der Klimawandel nicht mehr richtig zum Guten wenden kann. Aber dann müssen wir Menschen uns auch darauf vorbereiten und uns damit beschäftigen, wie wir unter den Bedingungen des Klimawandels – extreme Hitze, Dürre und weltweite Fluchtbewegungen – sozial miteinander leben und umgehen können. In unterschiedlicher Form haben alle künstlerischen Positionen deutlich gemacht, dass die Klimakrise nicht irgendwie so ein Zukunftsszenario ist, sondern uns alle bereits heute unmittelbar betrifft.

Kunst im öffentlichen Raum besitzt auch eine große Schnittstelle mit der Bildung, aber nicht im schulischen Sinne. Kunst bietet sich als ein lebendiges und beständiges Gegenüber zur Auseinandersetzung an, weil sie auf eine bestimmte Art und Weise dazu animiert, sich mit Dingen näher zu beschäftigen, sie empathisch zu lernen. Gleichzeitig kann die Kunst – abstrakt gesprochen – natürlich auch Positionen vertreten, die man nicht teilt. Es findet eine Reibung statt, die hilft, die eigenen Empfindungen scharfzustellen.

Lassen Sie uns über Ihr neues Projekt, die »Grand Snail Tour«, sprechen. Es soll sich mit der Stadtlandschaft Ruhrgebiet beschäftigen, mit den Narben der postindustriellen Städte, mit bestehender Armut, aber auch mit gelungenen Transformationen. Sie stellen in der Projektbeschreibung selbst die Frage: „Wie kann Kunst diese vielfältige Region erschließen, verändern und bereichern?“ Was erwartet uns bei der »Grand Snail Tour«?

Wir machen eine große Bewegung, die an das Muster eines Schneckenhauses erinnert, deshalb auch »Grand Snail Tour«. Wir führen ein mobiles Haus mit uns, einen Trailer, der als Ausstellungs- und Aktionsraum dient. Wir beginnen in Xanten und reisen dann mit diesem Kunstprojekt durch die Region: vom Westen in den Norden, in den Osten, in den Süden. Und dann enden wir drei Jahre später in Herne, also in der Mitte des Ruhrgebiets.

Am Wagen selbst gibt es viel Kunst, es gibt Objekte, die mitreisen, und unser gesamtes Mobiliar ist künstlerisch gedacht und von Künstler:innen entworfen. Pro Station sind dann weitere Künstler:innen einbezogen, die temporär mit Installationen oder performativ arbeiten, und gleichzeitig bereiten wir jeden Stopp mit lokalem Support vor, also mit Einzelpersonen oder Gruppen, zu denen wir schon im Vorfeld Kontakt aufgenommen haben. Wir fragen: Wie können wir Orte der Zusammenkunft schaffen oder bestehende Räume aktivieren? Welche Rolle spielt Kunst dabei? Wie kann Kunst zu den Menschen kommen, statt nur geduldig auf sie zu warten? Die »Grand Snail Tour« will einzigartige, möglichst gemeinsame Erlebnisse schaffen, bleibende Eindrücke hinterlassen und natürlich zum Mitreisen einladen.

Und zum Ablauf: Wir fangen in kleinen Städten an, das wird, glaube ich, sehr interessant. Es ist ja auch umkämpfter öffentlicher Raum, bei dem man das Gefühl hat, es gäbe zunehmend einen Überhang an rechten Parolen und Angstmacherei. Insofern kann man das auch als Intervention begreifen, bei der wir ganz andere Sachen und Diskurse mitbringen und einen sehr unerwarteten, wie Sie vorhin sagten: Überschuss herstellen.

„Grundsätzlich begreife ich den öffentlichen Raum immer als einen Ort, an dem Konflikte ausgetragen werden können.“

Auch jenseits von rechter Mobilisierung gibt es in vielen Städten des Ruhrgebiets durchaus Konflikte stadtpolitischer Natur. Sie haben gesagt, vor Ort soll mit lokalen Initiativen kooperiert werden. Ist auch angedacht, dabei mit aktivistischen Gruppen zu kooperieren? Also traut sich »Urbane Künste Ruhr« auch konflikthafte Themen in diesem Rahmen zu bearbeiten?

Das kommt darauf an, worum es im Einzelnen geht. Grundsätzlich begreife ich den öffentlichen Raum immer als einen Ort, an dem Konflikte ausgetragen werden können.

Ich kann mal ein Beispiel hier aus Bochum geben. Strukturwandel im Ruhrgebiet bedeutet aktuell auch die Zerstörung sozialer Infrastruktur. Ich denke an die umstrittene Schließung von zwei öffentlichen Freibädern in der Stadt. Die Initiative, die sich seit vielen Jahre gegen die Schließung des Bades im Stadtteil Höntrop einsetzt, kämpft aktuell um den Erhalt des Sprungturms im architektonischen Stil der Nachkriegsmoderne, und zwar mit Wasser drunter. Wäre eine solche Initiative ein Kooperationspartner? Und auch hier: Welche Rolle übernimmt die Kunst dabei?

Das ist nun eine sehr spezifische Frage, über die ich aus kuratorischer Sicht zunächst einmal nachdenken müsste. Prinzipiell würde ich spontan sagen: Warum nicht? Allerdings müssen wir uns die konkrete Situation erstmal angucken, es gibt ja immer mehrere Wünsche, die wir an unsere Standorte haben. 

Aber Sie suchen jetzt auch nicht bewusst nach Themen, die in den Städten gerade eine Rolle spielen, die dann einbezogen werden sollen?

Doch, natürlich setzen wir uns mit den lokalen Gegebenheiten auseinander, sprechen mit Initiativen und Vereinen vor Ort, aber es gibt natürlich sehr viele unterschiedliche Themen. In Xanten zum Beispiel sind wir jetzt mit einem mobilen Kiosk an den Start gegangen, den zwei Künstlerinnen gestaltet haben. Damit reagieren wir auch auf die Situation, dass die letzte Trinkhalle im Stadtzentrum schon vor einiger Zeit zugemacht hat. Das Angebot, das es in dem Kiosk geben wird, wurde gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen der lokalen Jugendkulturwerkstatt »eXit« entwickelt.

Noch ein Beispiel: In Dortmund gibt es derzeit eine große Diskussion um ein Erinnerungszeichen für die großen Leistungen der eingewanderten Arbeiter:innen und ihrer Familien, der so genannten Gastarbeiter:innen. Daran werden wir uns beteiligen, weil es auch unsere Themen sind: die Gestaltung des öffentlichen Raums, wer dazugehört und wessen gedacht wird, wem Zeichen gesetzt werden und wem nicht.

Manchmal habe ich den Eindruck, Kunstprojekte haben nur ein instrumentelles Verhältnis zu aktivistischen Kooperationspartner:innen außerhalb des Kunstbetriebs. Sie nutzen den Distinktionsgewinn, der sich aus dem Aufgreifen auch konflikthafter Themen ergeben kann, lösen wenige von den formulierten Versprechen ein und geben wenig Bleibendes zurück. Was will die »Große Schnecken-Tour« daran anders machen?

Die meisten Künstler:innen sind politisch reflektierte Menschen und möchten nicht nur Dinge gestalten, im luftleeren Raum sozusagen, sondern auch verändern. Die Zusammenarbeit von Künstler:innen mit aktivistischen Gruppen war zumindest in den Ursprüngen auch ein Versuch, die Kunst-Öffentlichkeit zu nutzen, um dem Aktivismus mehr Gehör zu verschaffen. Heute gibt es bei Projekten schon mal eine Feigenblattsituation, die in die eine oder andere Richtung geht, das kann sein.

Aber wenn es um reinen Aktivismus ginge, bräuchten wir die Kunst nicht. Mit einem erklärten Ziel aktivistisch zu sein, erscheint mir sehr viel effektiver ohne die Kunst im Gepäck. Unsere Verbindung zum Aktivismus ist die Frage nach dem öffentlichen Raum oder die Beziehung zu ihm, damit bewegen wir uns ohnehin in einem politisch aufgeladenen Feld.

Ich habe das an anderer Stelle mal so formuliert, dass wir mit den Projekten, die wir bisher gemacht haben, die Einladung ausgesprochen haben, dass Leute zu uns kommen, um diese Projekte zu erleben. Aber jetzt versuchen wir einmal die umgekehrte Bewegung: Jetzt fahren wir mit dem Wagen überall hin, lernen neue Leute kennen. Es ist der Versuch, neue kommunikative Situationen zu schaffen und Kunst noch einmal anders in öffentliche Situationen und in die öffentliche Auseinandersetzung einzubringen.

Aber spannend sind doch Momente, wo sich das vermischt. Also wo Aktivist:innen künstlerische Methoden nutzen und Künstler:innen zu Aktivist:innen werden. Das kann doch eine sehr interessante, fruchtbare Verbindung sein, wenn die Grenzen verschwimmen.

Auf jeden Fall. Ich kenne auch viele gute Beispiele dafür. Die Linie ist ja auch überhaupt nicht trennscharf. Wenn man genau weiß, was man erreichen möchte, halte ich Aktivismus in seiner effektivsten Form für das Sinnvollste. Oder geht es darum, Empfindungen und Erfahrungen Ausdruck zu verleihen? Geht es ins Offene? Gibt es Interpretationsspielraum? Gibt es Assoziationsreichtum? Das sind ja eher die künstlerischen Praktiken, die dann ganz anders rezipiert werden. Die dann Themen und Stimmungen adressieren, die mit künstlerischen Mitteln den Finger in die Wunde legen und über diese Erfahrung Haltungen beeinflussen, verändern oder radikalisieren können.

Womöglich hat Kunst eher die Fähigkeit, Fragen zu stellen ohne direkt Antworten geben zu müssen. Sie macht einen Raum auf. Oder Kunst kann neue Sichtweisen, neue Perspektiven von einem Standpunkt aus entwickeln, der noch nicht eingenommen wurde.

Sie kann ganz neue Situationen schaffen, auch neue kommunikative Situationen. Das ist der Weg ins Offene. So entstehen auch für uns vor Ort immer wieder neue Anstöße, neue Ideen. Wir wissen nie, womit wir als Nächstes konfrontiert werden. Das unterscheidet den öffentlichen Raum vom geschützten Raum, beispielsweise eines Museums: Er ist durchlässig und unvorhersehbar.


Interview

Kuratorin Britta Peters ist seit 2018 Künstlerische Leiterin von »Urbane Künste Ruhr«. Zuvor hat die Kulturwissenschaftlerin verschieden Ausstellungsprojekte kuratiert, unter anderem als Leiterin des Kunstvereins Harburger Bahnhof in Hamburg.

Rainer Midlaszewski ist Teil der Común Redaktion und im Ruhrgebiet stadtpolitisch aktiv.


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»Urbane Künste Ruhr«: urbanekuensteruhr.de


Titelbild

Auftakt der »Grand Snail Tour« in Xanten: Der Trailer wird zum Kiosk | Foto: © Heinrich Holtgreve


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