Das Dilemma der Straßenkulturszene zwischen Aufwertung und Verdrängung am Beispiel Wiener Platz in Köln
Klara Esch und David Bodarwé
Etwas unsicher betreten wir mit einer Biertischgarnitur und einer fünf Liter-Teekanne unter dem Arm den Wiener Platz. Es ist kalt, am Tag zuvor ist das Wetter umgeschlagen von verregneten 8 Grad hin zu eisigen Minusgraden. Aber die Sonne scheint – das macht uns Mut, dass wir mit unserem Tisch, den wir zunächst vor dem Eingang zur U-Bahn Unterführung positionieren wollen, auf Anklang bei der Straßenkulturszene am Wiener Platz stoßen werden. Als sie uns sehen, kommen einige Menschen auf unseren Tisch zu und nehmen gerne einen warmen Tee von uns an. „Habt ihr auch Kaffee?“ Haben wir nicht, aber schnell laufen wir rüber zum Discounter und besorgen lösliches Kaffeepulver. Das neue Getränkeangebot wird schnell zum Türöffner für eine Vielzahl an Gesprächen, schon nach wenigen Minuten stehen etwa 10–20 Menschen aus der Szene um uns herum. Wir erklären, dass wir in den kommenden Tagen regelmäßig mit unserer Bierbank am Platz sein werden und somit einen Sitzplatz und heiße Getränke für alle haben. „Cool!“, sagt ein jüngerer Mann. „Und warum? Seid ihr Streetworker?“ Wir erläutern, dass wir Stadtplanung studieren und uns mit der Entwicklung am Wiener Platz und speziell mit der Straßenkulturszene und ihren Bedürfnissen beschäftigen wollen. „Echt? Das interessiert jemanden? Okay!“
Die Straßenkulturszene als Thema der Stadtplanung
In fast jeder Stadt gehören Obdach- und wohnungslose Personen, von Armut betroffene Menschen, Suchtkranke und weitere marginalisierte Gruppen zum öffentlichen Raum. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebensgeschichten und heterogenen Problemlagen nutzen sie die Straßen, Plätze und Parks als Arbeits-, Wohn- oder Rückzugsort. Da sie auf die Aneignung des öffentlichen Raums zur Bewältigung ihres Alltags angewiesen sind, bilden sich gemeinsame Verhaltensmuster, Rituale und Treffpunkte heraus, die die Szene miteinander teilt und diese als Kollektiv einzigartig macht. Deswegen kann anerkennend von einer „Straßenkulturszene“ gesprochen werden. Trotzdem werden sie in der öffentlichen Wahrnehmung und den politischen Diskussionen als „Trinker“, „Penner“ oder „Junkies“ kollektiv stigmatisiert. Die betroffenen Orte werden schnell zu „Angsträumen“ und „Brennpunkten“ deklariert, die einer Aufwertung und Umgestaltung benötigen. In der Folge werden die „Problematisierten“ gezielt aus den öffentlichen Räumen verdrängt – ein Prozess, der von Politik, Verwaltung und Stadtplanung gefördert und von der Mehrheitsgesellschaft oft unreflektiert hingenommen wird. Zur Realität gehört aber auch, dass sich stellenweise alternative Herangehensweisen herauskristallisieren: Engagierte Stadtmacher:innen versuchen, durch kreative Projekte und kulturelle Bespielung neue Nutzer:innen für konfliktbehaftete Plätze zu aktivieren. Dabei soll die verbesserte soziale Kontrolle eine schrittweise und behutsame Umgestaltung der Räume ohne Verdrängung ermöglichen. Doch auch solche Projekte zielen in den meisten Fällen nur auf eine friedliche Koexistenz der “alten” und “neuen” Nutzer:innen ab, adressieren aber nicht aktiv die Bedürfnisse und Problemlagen der lokalen Straßenkulturszene.
Als wir als angehende Stadtplaner:innen immer öfter mit entsprechenden Berichterstattungen, Diskussionen oder Projekten konfrontiert wurden, ist uns aufgefallen, dass Nutzungskonflikte um die Straßenkulturszene im öffentlichen Raum meistens nur als soziale Fragestellung und nur selten als konkrete planerische Aufgabe betrachtet werden. Daher wollten wir uns im Rahmen unser Masterarbeit kritisch mit der eigenen Disziplin und der gelernten Methoden auseinandersetzen und uns eine Frage stellen, die eigentlich für viele interessant und relevant ist: Ist eine Aufwertung ohne Verdrängung möglich?
Wenn man sich einer Antwort darauf nähern will, braucht es ein neues Verständnis im Umgang mit marginalisierten Personen und Gruppen in unseren öffentlichen Räumen. Statt sie zu problematisieren, muss die Straßenkulturszene als vollwertiger Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden. Wie alle anderen Nutzer:innen des Raumes, hat auch sie ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche an die Ausgestaltung dieses Raums. Durch ein solches Umdenken werden die vorher „Problematisierten“ zu Expert:innen ihres räumlichen Umfelds und „Brennpunkte“ zu Räumen, an denen marginalisierte Personen gemeinschaftlich ihren Alltag bewältigen. Daraus folgt, dass wir uns neue Methoden überlegen müssen, wie wir die Bedürfnisse der „Problematisierten“ im öffentlichen Raum besser erfassen und verstehen können. Und das bedeutet auch, dass zukünftige Umgestaltungs- und Planungsprozesse mehr auf eine soziale Gerechtigkeit ausgerichtet sein müssen.
Ein erster Versuch am Wiener Platz
Seit der letzten Umgestaltung in den 90er Jahren ist der Wiener Platz in Köln ein zentraler Treffpunkt einer lokal verwurzelten Szene, die insbesondere in den letzten Jahren vielfach Gegenstand negativer Berichterstattung war. Daraus resultieren intensive Sicherheitsmaßnahmen, wie die Installation von Videoüberwachung, erhöhte Polizeipräsenz mit präventiven Kontrollen und zuletzt die Einrichtung einer Waffenverbotszone. Die Bedeutung des Raumes als Ort der alltäglichen Lebensführung und wichtiger Bezugspunkt der Straßenkulturszene findet hingegen kaum Beachtung. Im letzten Jahr ist ein Umgestaltungsprozess des Platzes durch die Stadt angestoßen worden – Grund genug, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie hier eine sozial gerechte Platzentwicklung umgesetzt werden könnte.
Um mit der Straßenkulturszene in Kontakt zu kommen, waren wir mit unserer Biertischgarnitur und heißen Getränken über längere Zeit regelmäßig vor Ort, haben beobachtet, viele Gespräche geführt und den „Problematisierten“ bei ihren Geschichten, Erinnerungen und Erfahrungen zugehört.
Dabei hat sich zunehmend gezeigt, dass die lokale Straßenkulturszene am Wiener Platz aus einer relativ stabilen und sozial vernetzten Gruppe besteht. Viele von ihnen kommen aus dem Stadtteil oder sind dort aufgewachsen und kennen sich seit vielen Jahren. Uns wird mehrfach erzählt, dass es direkt auffällt, sobald jemand fehlt und wir beobachten regelmäßig, dass man sich in unterschiedlichsten Problemlagen, sei es für den Gang zum Amt oder auch nur zum Aufhängen einer Gardinenstange, hilft. Mit Ausnahme der ansässigen Gewerbetreibenden, welche die lokale Straßenkulturszene überwiegend akzeptiert und unterstützt, bestehen bei den meisten Personen nur wenige Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft. Obwohl nur einzelne Personen am Wiener Platz obdachlos sind, berichten viele von prekären Wohnverhältnissen in Einfachhotels, losen Wohngemeinschaften oder betreuten Wohnprojekten, die überwiegend mit Konflikten und fehlender Souveränität assoziiert werden. Was einen Großteil der Personen aus der Straßenkulturszene darüber hinaus verbindet, ist eine Suchterkrankung. Das Substitutionsangebot in der Nähe des Platzes strukturiert den Tagesablauf und führt dazu, dass der Wiener Platz als Verkehrsschnittstelle zu einem wichtigen Treffpunkt der gesamten Szene wird. Das Gefühl, dass die „Problematisierten“ dort trotzdem nicht erwünscht sind, ist allgegenwärtig. Es fehlen Sitzmöglichkeiten und andere Ausstattungselemente, die insbesondere in den kalten Wintermonaten Schutz bieten könnten. Während unserer Zeit vor Ort erleben wir mehrere Polizeikontrollen mit Platzverweisen. Die Betroffenen empfinden das als gezielte Verdrängung und übernehmen in vielen Fällen gleichzeitig das Narrativ, dass sie das zu lösende „Problem“ sind. Diese Widersprüchlichkeit findet sich auch in der Wahrnehmung des Raumes wieder: Die Straßenkulturszene identifiziert sich durch den langjährigen Aufenthalt, die intensive soziale Vernetzung und die vielfältigen Beziehungen zu lokalen Akteur:innen in besonderer Weise mit dem Wiener Platz. Dennoch wird in vielen Gesprächen auch eine negative Konnotation des Platzes deutlich, die durch schlechte Erfahrungen und vielfache Konflikte vor Ort entstanden ist.
Und trotzdem: Viele Personen aus der Straßenkulturszene sind an dem Thema interessiert und haben eigene Ideen und Anregungen für eine Umgestaltung des Platzes. Zusammen überlegen wir, was sich am Platz ändern müsste, um die Nutzungskonflikte zu vermeiden und die Aufenthaltsqualität für alle zu verbessern. Daraus entwickelte sich eine mögliche Vision für eine sozialgerechtere Entwicklung am Wiener Platz. Im Rahmen eines kooperativen und schrittweisen Umgestaltungsprozesses sollte die Straßenkulturszene im weiteren Verfahren beteiligt und aktiv in die Umsetzung eingebunden werden. Dies kann nur funktionieren, wenn grundsätzliche soziale Hilfsstellungen, wie beispielsweise die Einrichtung eines Drogenkonsumraums oder die Schaffung von niederschwelligen Beschäftigungsverhältnissen, als Teil des Prozesses mitgedacht werden. Darüber hinaus ist die Präsenz persönlicher Ansprechpartner:innen vor Ort von zentraler Bedeutung, um niederschwellige Hilfeleistungen zu organisieren und bei Fragen oder Konflikten zu vermitteln. Anstatt die Straßenkulturszene gezielt von dem Platz zu verdrängen gilt es auf dem Platz und in direkter Umgebung mehrere Aufenthaltsbereiche mit unterschiedlichen Qualitäten zu schaffen und somit die bestehenden Nutzungskonflikte zu entzerren.
Dieser knapp skizzierte Ansatz hat nicht den Anspruch, einen vollständigen Lösungsweg aufzuzeigen und kann ebenfalls nicht einfach auf andere Plätze oder laufende Prozesse übertragen werden, da jeder Ort und jede Straßenkulturszene im lokalen Kontext zu betrachten ist. Trotzdem zeigt er auf, dass es absolut notwendig und auch möglich ist, die Bedürfnisse der Straßenkulturszene intensiver zu erfassen und zu adressieren. Dahingehend formulieren wir mit dem folgenden Manifest grundsätzliche Anforderungen für ein Umdenken im Umgang mit der Straßenkulturszene in unseren öffentlichen Räumen.
Ein Manifest für ein Umdenken in der Stadtplanung
Die Straßenkulturszene ist ein Teil unserer Städte. Sie gehört zu einem vielfältigen urbanen Leben dazu. Sie hat nicht nur das gleiche Anrecht auf die Nutzung des öffentlichen Raums – die Straßenszene ist auf diesen in existenzieller Weise angewiesen. Anstatt der Symptome müssen endlich die Ursachen bekämpft werden! Nicht Obdachlose, Drogenabhängige und Arme im öffentlichen Raum sind das Problem, sondern Wohnungsknappheit, mangelnde Suchtberatung und Armut. Diese Themen betreffen nicht nur Politik und Sozialarbeit, sondern auch Stadtplaner:innen können mit ihren Fähigkeiten darauf hinwirken, dass das Dilemma zwischen Aufwertung und Verdrängung minimiert wird. Die folgenden Punkte können dafür eine Grundlage bilden:
Wohnraum ist die Grundvoraussetzung
Viele individuelle Problemlagen beginnen oder enden mit dem Fehlen einer eigenen Wohnung und der damit verbundenen Unsicherheit. Wir müssen das Wohnen als bedingungsloses Grundrecht anerkennen und uns dafür einsetzen, dass ausreichend bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung und innovative Wohnungsmodelle wie beispielsweise „Housing First“ zur Verfügung stehen.
Hardware und Software im Zusammenspiel
Die Gestaltung öffentlicher Räume sollte immer in einem Gesamtkonzept gedacht werden. Dazu muss die konkrete Bespielung und Umgestaltung von Plätzen mit der Bereitstellung von Wohnraum, Hilfen bei Drogenproblemen, Angeboten der Gesundheitsvorsorge und der Schaffung von Beschäftigungsverhältnissen verknüpft werden.
Von defensiver zu offensiver Architektur
Bei der Gestaltung öffentlicher Räume müssen sich Stadtplaner:innen und -macher:innen gegen die Implementierung von defensiven Architekturen stellen und stattdessen den Raum offensiv integrativ planen: Statt die Szene mithilfe von raumgestalterischen Mitteln zu vertreiben, braucht es Orte, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren!
Entstigmatisierung durch Anerkennung
Stadtplaner:innen können durch eine kritische Stadtforschung dazu beitragen, die Wahrnehmung der Straßenszene in der Mehrheitsgesellschaft positiv zu beeinflussen. Eine neue Perspektive, welche die alltäglichen Aktivitäten und Bewegungen der Straßenkulturszene in besonderer Weise anerkennt, muss mehr Beachtung und Raum in der Stadtforschung finden. Statt sich auf abstrakte Daten zu berufen, sollte sich die Zeit genommen werden, vor Ort mit den Menschen zu sprechen und sie als Expert:innen für den öffentlichen Raum ernst zu nehmen.
Sozialgerechte Koproduktion
Durch partizipative und koproduktive Planungsprozesse können Stadträume gemeinsam von den Menschen, die sie nutzen, gestaltet und entwickelt werden. Es ist wichtig, dass solche Prozesse nicht nur auf einzelne, oft privilegierte Stadtbewohner:innen ausgerichtet sind, sondern auch marginalisierte Menschen besonders in den Fokus stellen. Die Straßenkulturszene muss demnach aktiv in die Entscheidungen einbezogen werden, die sie in existenzieller Weise betreffen.
Mit unserem Arbeit appellieren wir an alle Stadtplaner:innen und anderen aktiven und engagierten Akteur:innen in der Stadt, sich intensiver mit den sozialen Auswirkungen ihrer Handlungen auseinanderzusetzen. Gerade in kulturell und partizipativ geprägten Prozessen braucht es mehr Bewusstsein und Bereitschaft auch den marginalisierten Stimmen in der Stadt mehr Gehör zu verschaffen. Wir hoffen dahingehend sehr, auch in Zukunft über den Umgang mit der Straßenkulturszene im öffentlichen Raum diskutieren zu können und einen Erfahrungsaustausch zwischen unterschiedlichen Ansätzen, Projekten und interessierten Akteur:innen voranzutreiben, um voneinander zu lernen.
Autor:innen
Klara Esch und David Bodarwé haben beide im Master Städtebau NRW an der TH Köln studiert und sich im Rahmen ihrer Masterarbeit mit den Perspektiven marginalisierter Personen im öffentlichen Raum beschäftigt.
Fotos
Eindrücke aus der Zeit am Wiener Platz | Fotos: Klara Esch und David Bodarwé