Der lange Kampf um einen subkulturellen Ort in Hamburg
THEO BRUNS
Wohl selten hat der Neubau einer Eisenbahnbrücke die Gemüter der Stadtgesellschaft so erhitzt wie im Fall der Hamburger Sternbrücke am Rande des Schanzenviertels, die ihren Namen dem Schnittpunkt mehrerer Straßen und Schienenstränge verdankt. Eine hundert Jahre alte genietete Stahlkonstruktion mit kasemattenartigen Unterbauten soll durch den Neubau einer überdimensionierten „Monsterbrücke“ ersetzt werden, die aussieht, als gelte es den Fehmarnbelt zu queren. Allein für den Bau und anschließenden Transport der Brücke, die sich auch unter einem grünen Verkehrssenator an den klimaschädlichen Prioritäten des Autoverkehrs orientiert, soll eine ganze Allee von Bäumen gefällt werden. All dies ohne Architekturwettbewerb, Bürger:innenbeteiligung, Berücksichtigung von vorliegenden Alternativentwürfen oder Prüfung der Sanierungsfähigkeit des alten Bauwerks.
Seit vier Jahren machen die »Initiative Sternbrücke« und der »Freundeskreis Sternbrücke« gegen diese gigantomanischen Pläne mobil, denen ein in dieser Form einzigartiger Ort zum Opfer fallen würde. Mit Kreiselkonzerten, die jeden Donnerstagabend im Sommer am Wendehammer einer Stichstraße durchgeführt werden, haben sie die bedrohte Clubkultur auf die Straße geholt und eine äußerst wirksame und dauerhafte Aktionsform kreiert.
„DER HAMBURGER FOTOGRAF STEPHAN PFLUG HAT DIE STERNBRÜCKE ÜBER VIELE JAHRE FOTOGRAFISCH BEGLEITET. SEINE BILDER SIND EINE LIEBESERKLÄRUNG AN DIE ALTE EISENBAHNBRÜCKE UND DEN QUIRLIGEN URBANEN MIKROKOSMOS.“
Die Initiative hat zudem gegen den Bau der Brücke Klage eingereicht, die aufgrund des Planungsbeschleunigungsgesetzes jedoch keine aufschiebende Wirkung hat. Zahlreiche Bäume wurden bereits gefällt, die Mieter:innen der umliegenden Wohnungen vertrieben, die ersten Häuser abgerissen und die hier einst ansässigen Clubs aus den Kasematten vertrieben. Umso wichtiger und wertvoller, dass nun ein Fotoband erschienen ist, der diese untergegangene Welt visuell zum Leben erweckt.
Der Hamburger Fotograf Stephan Pflug – selbst engagiertes Mitglied der Initiative – hat die Sternbrücke über viele Jahre fotografisch begleitet. Seine Bilder sind eine Liebeserklärung an die denkmalgeschützte alte Eisenbahnbrücke und den quirligen urbanen Mikrokosmos aus Clubs, Szenebars und Kiosken, der sich hier über Jahrzehnte entwickelt hat.
Im Buch blätternd erscheinen vor unseren Augen die Astra Stube, in der Fatih Akin eine Szene für seinen Film „Soul Kitchen“ drehte und die mehrfach mit dem Club Award für die beste Newcomer-Förderung in Hamburg ausgezeichnet wurde; die Beat Boutique mit der kleinsten Tanzfläche Hamburgs; die legendären Clubs Fundbureau und Waagenbau. Für gastronomische Nahversorgung und Getränke sorgten Güney Kebap & Baran Falafel; Tacos & Burritos gab‘s im Saint Pablo’s und am Brückenkiosk war „mehr los als am Fischmarkt“. Die Fassade des Bedpark Hotels schmückte ein Mural des Innsbrucker Künstler HNRX. Seit Jahrzehnten geschraubt, geschweißt und repariert wurde in der Werkstatt „Butzek Automobile“. All dies fiel nun der Abrisswut zum Opfer. Noch stehen als Solitär ein Eckhaus mit Garten sowie das Künstlerhaus Faktor neben der Bar 227, auf dessen Gäste Jimi Hendrix von einem großflächigen Wandgemälde herabschaut.
„SEINE FOTOS LASSEN ERMESSEN, WIE KOSTBAR ES IST, WAS HIER UNWIEDERBRINGLICH ZERSTÖRT WURDE.“
Stephan Pflugs stimmungsvolle fotografische Langzeitbeobachtung fängt diesen einzigartigen subkulturellen Ort und die Menschen, die ihn zu vibrierendem Leben brachten, in wundervoller Art und Weise ein. Seine Fotos lassen ermessen, wie kostbar ist, was hier unwiederbringlich zerstört wurde: eine Form von Urbanität, wie sie – häufig in Nischen und auf Brachen – von den Bewohner:innen und Nomad:innen des städtischen Raums selbst geschaffen wird und von der die Architekturbüros profitgetriebener Großkonzerne nicht einmal träumen können.
„Die Utopie ist jetzt“, schreibt Axel Bühler treffend im Nachwort zum Buch, in dem er den langen Kampf der Initiative Sternbrücke Revue passieren lässt und sich kritisch mit der Hamburger Stadtentwicklungspolitik und einer autozentrierten Verkehrsplanung auseinandersetzt. Im Vorwort erläutert Kristina Sassenscheidt vom Denkmalverein die filigrane architektonische Qualität der alten Brücke, die nun dem Neubau weichen soll. Sie zitiert zustimmend den Künstler Christoph Schäfer, der die Sternbrücke einen der „psychogeografisch bedeutendsten Orte im Hamburger Nachtleben“ nennt. Erhellende Informationen zu den auf den Fotos abgebildeten Orten hat Almut Siegert beigesteuert.
Nicht zuletzt stellt der Fotoband eine Hommage an die »Initiative Sternbrücke« dar, die ihren Protest mit großer Hartnäckigkeit aufrechterhält. Ihr vorbildliches zivilgesellschaftliches Engagement ist Inspiration und Ermutigung für verwandte Initiativen, die sich zum Beispiel gegen die Investorenpläne für das Holstenareal, René Benkos Elbtower oder die Verlegung des Altonaer Bahnhofs an den Diebsteich zur Wehr setzen. Sie alle arbeiten beharrlich an einer lebenswerten und solidarischen Stadt von unten. Auch wenn das hamburgweite Netzwerk Recht auf Stadt in die Krise geraten ist, leben seine Impulse in den lokalen Initiativen weiter, die in konkreten Konfliktfeldern aktiv sind. Eine andere Stadt ist und bleibt möglich.
▷ Theo Bruns ist langjähriger Recht-auf-Stadt-Aktivist in Hamburg.
▷ Stephan Pflug, »Die Sternbrücke. Hamburgs letzter urbaner Ort«, mit Texten von Kristina Sassenscheidt und Axel Bühler, Junius Verlag, Hamburg 2024, 96 Seiten, zahlr. farbige Abb., 24,90 Euro
▷ Initiative Sternbrücke: initiativesternbruecke.org
▷ Fotos: © Stephan Pflug