Die Sozialdemokratin Lily Braun gilt als Erfinderin des Einküchenhauses
Janika Kuge und Rainer Midlaszewski
Wie wäre es, wenn nicht jeder Haushalt über eine eigene Küche verfügt, sondern die Mahlzeiten für alle Bewohner:innen eines Hauses zentral in einer Großküche zubereitet würden? Von dieser Idee versprach sich die Sozialdemokratin Lily Braun eine Zentralisierung von Hausarbeit und damit eine Entlastung der Frauen. Mit der Einrichtung einer Art Hauskantine sollte die Care Arbeit in großen Mietshäusern genossenschaftlich organisiert und aufgeteilt werden. Weitergedacht ließen sich auch die Versorgung mit sauberer Wäsche und die Kinderbetreuung innerhalb einer Hausgemeinschaft in so ein Modell integrieren. Lily Brauns Konzept kulminierte in der Idee des sogenannten Einküchenhauses. In ihrer 1901 veröffentlichten Schrift „Frauenarbeit und Hauswirtschaft“ skizzierte sie ihr damals revolutionäres Modell eines Einküchenhauses.
Lily Braun (1865–1916), aus bürgerlich-adligen Elternhaus, trat schon früh der SPD bei, setzte sich für die Rechte der Frauen ein und war mit Käthe Kollwitz befreundet. Sie sah sich als Vermittlerin zwischen bürgerlicher und der proletarischen Frauenbewegung, wurde jedoch von beiden kritisiert.
Ihre Vorschläge zu einer kollektiven Organisation der Reproduktionsarbeit trafen damals innerhalb der Sozialdemokratie auf keine Zustimmung: Die männlichen Parteimitglieder warnten vor der Konkurrenz, die durch den Eintritt der dann von der Hausarbeit befreiten Frauen in den Arbeitsmarkt entstehen könnte. Sie fürchteten auch eine Erosion des Modells der Kleinfamilie, in dem die Frauen eine fest zugeschrieben Rolle im Haushalt hätten und in dem die Organisation der dort anfallenden Arbeit somit eindeutig geklärt wäre. Auch bei führenden Genossinnen der Zeit trafen sie auf offene Ablehnung. Clara Zetkin, Frauenrechtlerin und Chefredakteurin der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“, wies die Idee des Einküchenhauses mit der Begründung zurück, ein solches Modell könnten sich die Arbeiter:innen nicht leisten. Und die Frage, wie die Reproduktionsarbeit zukünftig organisiert werden soll, stelle sich erst nach der proletarischen Revolution.
Auch wenn Lily Brauns Ideen in der Arbeiter:innen- und frühen Frauenbewegung keinen großen Resonanzraum fanden, so wurden zumindest einige Einküchenhäuser realisiert, wenn auch als privatwirtschaftliche Dienstleistungsmodelle. Zwischen 1908 und 1909 entstanden in Berlin mehrere Häuser mit Zentralküchen und Speiseaufzügen in die Wohnungen sowie angeschlossenen Kindergärten. Diese Realisierungen des Einküchenhaus scheiterten jedoch schon nach kurzer Zeit aufgrund von Organisations- und Kapitalmangel. Andere Modelle in Kopenhagen, Stockholm, Amsterdam oder Wien bestanden zwar länger, blieben aber isolierte Einzelexperimente.
Auch heute, über 100 Jahre später, stellt sich immer noch die Frage, wer die Care Arbeit leistet und wie sie organisiert ist. Viele Ideen zur Erneuerung dieses Bereichs kamen seit dem Werk Lily Brauns dazu. Von dem Modell der Kleinfamilie und damit verbundenen Wohnformen wurde trotzdem kaum abgerückt. Die eher akademische Diskussion um den Ansatz einer „Care Revolution“ ist zurzeit wieder leise geworden. Trotzdem spielen heute die Forderungen nach Sicherung und Ausbau von sozialer Infrastruktur, nach Kindertagesstätten oder Stadtteilkantinen, zum Beispiel in den Auseinandersetzungen um die Priorisierung kommunaler Aufgaben, eine wichtige Rolle. Auch zentrale Organisation und Kollektivierung wird wieder diskutiert. Die Frage wer in einer aus den Haushalten externalisierten Versorgungsstruktur, wie Kitas oder Großküchen, die Arbeit macht – ob sie nun kommunal, genossenschaftlich oder privatwirtschaftlich verfasst ist und ob es wieder ausschließlich Frauen sind, die darin arbeiten – ist damit nicht gelöst. In der nach wie vor maßgeblich geschlechtlichen Zuordnung der Sorgearbeit zeigt sich das Patriarchat am unverrückbarsten.
Autor:innen
Janika Kuge und Rainer Midlaszewski sind Teil der Común Redaktion.
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Einküchenhaus – Reformmodell städtischer Wohnbebauung, umfangreicher und gut recherchierter Artikel auf Wikipedia
Titelbild
Im Hintergrund sind die ehemaligen Einküchenhäuser in der Wilhelmshöher Straße 17–20 in Berlin Friedenau zu sehen | Collage: Rainer Midlaszewski | Piktogramme: Gerd Arntz