Gewebte Karten

Räume der Fürsorge und des sozialen Miteinanders von Drogen konsumierenden Personen in Vancouver und Paris

Céline Debaulieu, Melora Koepke, Maddy Andrews, Elli Taylor und Lauren Dixon (»SoCS-Collective«) | Übersetzung: Luise Klaus

Prolog: Karten bedeuten Macht. Sie bilden nicht einfach Räume ab, sondern stellen diese auf eine ganz bestimmte Art und Weise dar. Dabei transportieren sie häufig Informationen zu sozialen, politischen oder ökonomischen Beziehungen. Wer Karten erstellt, entscheidet, was sichtbar gemacht wird und wie der Raum dargestellt wird. Counter-Mapping ist ein Ansatz, beim dem vor allem Gegen-Narrative, marginalisierte Sichtweisen auf die Welt und „Unsichtbar-Gemachtes“ in Form von Karten visualisiert werden. Häufig bilden diese Kartenprojekte einen Schulterschluss aus Kunst, Aktivismus und Wissenschaft. Sie können stark von dem Bild der topographischen Landkarte abweichen und experimentieren häufig mit verschiedenen Materialien und Ausdrucksformen. Die hier gezeigten Karten wurden von dem »SoCS-Collective« gewebt und visualisieren den Alltagsraum und die Verdrängungserfahrungen von Drogen-User:innen in Vancouver und Paris.

Das »SoCS-Collective« ist ein Netzwerk französischer und kanadischer Wissenschaftler:innen, Praktiker:innen und Künstler:innen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen in Bezug auf Drogenkonsum und -aktivismus mit Sitz in Vancouver und in Paris. Das Kollektiv würdigt die alternativen Geschichten, Praktiken und Kenntnisse der Drogen-User:innen und arbeitet daran, Wege des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit für das kollektive Überleben und die Befreiung aufzuzeigen. Dabei spielen die gewebten Karten über die Lage der Lebensräume der User:innen in der Stadt, der Encampments, eine zentrale Rolle: Encampments sind provisorische Unterkünfte, in denen wohnungslose Drogen-User:innen (und andere) in Zelten und anderen ad-hoc-Unterschlüpfen in Parks, auf Gehwegen und an anderen städtischen Orten leben. Decampments oder „Straßensäuberungen“ – Räumungen, bei denen die Behörden die Encampments entfernen und zerstören – führen zu einer weiteren Vertreibung der Bewohner:innen und einer weiteren Marginalisierung. Durch das Nachzeichnen des Kontinuums von En- und Decampments in zwei Nachbarschaften in Vancouver (siehe Startbild) und in Paris (siehe Abbildung unten), zeigen diese Karten fragmentarische Geschichten der Fürsorge und des sozialen Miteinanders.

Drogen-User:innen waren stets einfallsreich darin, einen Lösungsweg aus dem Nichts zu schaffen, indem sie die Stadt bewohnen, Communities bilden und ihr Leben immer wieder neu gestalten, trotz anhaltender Verdrängungen. Die gewebten (Counter-)Mapszeigen diese Prozesse und dokumentieren ihren ständigen Kampf ums Überleben und ihre Bemühungen, füreinander zu sorgen. Wie man auf der Straße sagt: „Niemand wird kommen, um uns zu retten. Wir müssen uns selbst retten.“

Die gewebten Karten zeigen die Verflechtung von Encampment und Decampment in bestimmten Stadtteilen (wie Vancouvers Downtown Eastside und im Nordosten von Paris), in denen einerseits die Bildung von Communities in marginalen städtischen Lagern stattfindet und diese andererseits durch isolierte und andauernde Formen von Gewalt zerstört werden. Deshalb fragen die Karten: Welche Räume der Fürsorge und des sozialen Miteinanders gibt es in den beiden Fallstädten und welche könnte es geben? 

„Nicht allein zu sein bedeutet, nicht zu sterben“ – Encampments und community in Vancouvers Downtown Eastside

Die Zahl der Lager im öffentlichen Raum hat zugenommen – auf den Gehwegen, in lokalen Parks und in Randgebieten, an denen Menschen ohne Wohnung und mit niedrigem Einkommen auf den öffentlichen Raum angewiesen sind. Gentrifizierung und die damit einhergehende fortschreitende Verdrängung sind für viele marginalisierte Menschen seit langem Realität. Ein Grund für den Anstieg der Encampments ist der Wunsch von Drogen-User:innen, nicht gezwungenermaßen allein zu konsumieren. Viele fürchten die Isolation und Einsamkeit in Unterkünften, die ihre Bedürfnisse nicht erfüllen oder zu hohe Zugangsbarrieren für Drogen-User:innen haben.

Diese jüngste Geschichte von Zwangs- und Straßenräumungen bedroht das Überleben von Menschen mit niedrigem Einkommen und ohne Wohnung, von denen einige aufgrund mehrerer sich überschneidender Problemlagen (Rassifizierung, koloniale Gewalt gegen indigene Personen, geschlechtsspezifische Gewalt, Stigmatisierung von Drogenkonsum) noch weiter marginalisiert werden, selbst inmitten der schlimmsten Opioid-Krise der Geschichte. Die einzige Überlebenschance im Kontext der aktuellen Opioid-Krise besteht darin, nicht allein zu konsumieren. Nicht allein zu sein bedeutet, nicht zu sterben. 

„Gebt uns was auch immer und wir werden unser Leben daraus machen“ – Verdrängung und Encampment von Drogen-User:innen im Norden von Paris

In Paris haben staatliche Evakuierungsstrategien marginalisierte Drogen-User:innen weiter an den Stadtrand gedrängt und sie damit von Einrichtungen der Schadensminderung und Hilfsangeboten abgeschnitten. Seit der Räumung der „La Colline du Crack“ genannten Drogenszene an der Porte de la Chapelle im Jahr 2018 werden Crack-User:innen ständig von einem Ort zum anderen gebracht, in Bussen herumgekarrt, hinter Mauern versteckt. 

Im Sommer 2021 wurden die Drogen-User:innen auf dem winzigen Platz Forceval im Neunzehnten Arrondissement an der Stadtgrenze von Paris an die buchstäblichen Stadtmauern am Boulevard Périphérique (Pariser Ringstraße) gedrängt. Wegen der starken Polizeipräsenz konnten oder wollten viele den Platz nicht verlassen. Anfang Oktober 2022, mehr als ein Jahr nach der ersten Vertreibung, wurde das Camp jedoch von der Polizei geräumt und geschlossen. Es wurde eine Sicherheitsoperation eingeleitet, um zu verhindern, dass sich das Camp an einem anderen Ort wieder aufbaut. 

Warum Counter-Mapping?

Die Idee, Geschichten in eine handgefertigte Counter-Map zu verweben – also ein Kartierungsprojekt, das nicht Teil eines institutionellen städtischen Planungsprozesses oder einer sozialen Dienstleistung ist – sprach uns und die Community Mitglieder an. Wir wussten, dass wir das richtige taten, als wir sahen, wie das Projekt bei den Beteiligten Begeisterung auslöste und viele mitmachen wollten.

„Wir haben jeden Tag mit Leben und Tod zu tun“, sagt Elli, Mitautorin und Kartenweberin. „Wir haben nicht so oft die Chance darauf, Spaß zu haben – und das hat Spaß gemacht, obwohl es gleichzeitig politisch war.”

Bei der Erstellung von (Gegen-)Karten über Räume der Fürsorge und des sozialen Miteinanders von Drogen-User:innen wollten wir unsere eigene kollektive Arbeitsweise entwickeln, die damit begann, sich gegenseitig kennenzulernen, gemeinsame Interessen zu finden, Ansätze und Bedürfnisse zu erkunden. Wir haben ein trans-lokales Kollektiv gegründet, um Projekte an der Schnittstelle zwischen Forschung und Kunst durchzuführen, welche den Einfallsreichtum und die gelebten Erfahrungen von Drogen-User:innen nutzen, um Lösungen für Gewalt und städtische Ausgrenzung zu erarbeiten.

Unser Ziel war es, subjektiv die Emotionen und Erfahrungen der Menschen am Rand der Gesellschaft darzustellen. Dabei griffen wir auf feministische und dekoloniale Ansätze der Datenvisualisierung und Kartografie zurück. Wir möchten betonen, dass dieses Projekt als kleines, community-basiertes Kunstprojekt gedacht war. Denn zur Realität gehört auch, dass systematisch marginalisierte Menschen, einschließlich Drogen-User:innen, zwar oft Gegenstand von Forschungsprojekten sind, jedoch historisch gesehen nur minimalen Einfluss auf das Design der Forschung, die sie untersucht, haben. 

Die Vancouver-Karte basiert auf Gesprächen mit Community-Expert:innen und unserer Teilnahme an Veranstaltungen, Aktionen und Outreach-Arbeit. Im Zentrum dieser Gespräche stand der Kampf für eine sichere Versorgung und das Recht, im öffentlichen Raum zu bleiben, trotz eines fortwährenden Kontinuums der Verdrängung und der Gewalt, welches die Sicherheit derjenigen bedrohen, die auf eine kollektive Präsenz im öffentlichen Raum angewiesen sind, um sich selbst zu schützen. In Paris luden wir Drogen-User:innen, Harm Reduction-Expert:innen1 und Aktivist:innen ein, ihre Ideen darzustellen, wie das tägliche Leben von Crack-User:innen verbessert werden könnte.

Die (counter-)maps lesen

Beim Vergleich der beiden Karten wird deutlich, dass sie sich im Maßstab unterscheiden – während die Pariser Karte die gesamte Stadt abbildet, ist die Karte von Vancouver auf einen bestimmten Teil der Downtown Eastside beschränkt: von der Abbott Street bis zur Campbell Street und von der Alexander Street bis zur Pender Street. Die Hastings Street – die Hauptverkehrsader, durch die der Lebensnerv der Community fließt und in der sich die Kämpfe um die Encampments in jüngster Zeit und in der Vergangenheit konzentriert haben – verläuft mitten durch die Karte. Dies verdeutlicht auch, wie stark die Downtown Eastside vom Rest der Stadt abgegrenzt ist. Kanadas „ärmste Postleitzahl“, um ein oft zitiertes Klischee zu wiederholen, ist ein vielgeschmähtes Gebiet, in dem einkommensschwache Bewohner:innen in immer engeren Räumen „eingekesselt“ werden. 

Die Pariser Karte hingegen zeigt die gesamte Stadt, damit die Betrachter:innen die großen Muster der Vertreibung erkennen können. Abstrakte menschliche Figuren symbolisieren die Zonen, aus denen die Menschen vertrieben wurden: die Colline du Crack in der Nähe der Porte de La Chapelle, der Place de la Bataille de Stalingrad, die Porte de La Villette und der Gare du Nord, der größte Bahnhof Europas, der traditionell ein Transit- und Sammelpunkt für Drogen-User:innen und viele andere ist.

Wir hoffen, dass wir in der Lage sein werden, diese (Counter-)Maps mit aktuellen und neuen Teilnehmer:innen weiter zu weben: weitere Elemente hinzufügen, weitere Ebenen der Komplexität schaffen und weitere (gegen-)kartografische Geschichten erzählen.2

Was sagen uns die Karten?

Als wir Drogen-User:innen in Paris fragten, welche Art von Unterkünften und sozialen Räumen sie sich wünschen, sagten sie: „Wir wollen ruhig zusammenleben, gebt uns was auch immer und wir werden unser Leben daraus machen.“ In Vancouver erhielten wir ähnliche Antworten, wobei die wichtigste Forderung eine sichere Versorgung war, die im Kontext der aktuellen und sich verschärfenden Opioid-Krise in Kanada dringend benötigt wird. 

Jedoch ist es für Drogen-User:innen, die auf den öffentlichen Raum angewiesen sind, schwierig, Räume der Fürsorge und des sozialen Miteinanders zu finden und selbst grundlegende Bedürfnisse nach einer Unterkunft und dem Überleben zu erfüllen. Sich in einem Park oder auf einem Platz zu versammeln, ermöglicht es den Menschen, in ihrem Alltag – in dem der Drogenkonsum ein Faktor ist, aber nicht ihre gesamte Existenz bestimmt – nicht allein oder isoliert zu sein. Die Nutzung des öffentlichen Raums durch Drogen-User:innen und ihre Vertreibung aus ebenjenem Raum verweist auf die immer wiederkehrende Frage, wofür (und für wen) der öffentliche Raum da ist.

Drogenkonsum sollte daher weder als eine Frage der Kriminalität noch als eine rein medizinische Angelegenheit verstanden werden, vielmehr ist es eine soziale Frage, die den Drogenkonsum mit der Teilhabe der Drogen-User:innen an der Gesellschaft und ihrem Aufenthalt in städtischen Räumen verbindet. Ein städtischer Raum, der aktuell so gestaltet und reguliert ist, dass Drogen-User:innen systematisch ausgeschlossen werden.


Autor:innen

Céline Debaulieu, Melora Koepke, Maddy Andrews, Elli Taylor und Lauren Dixon sind Teil des »SoCS-Collective«.

Bei diesem Text handelt es sich um eine übersetzte und gekürzte Version des Artikels „Weaving Drug Users’ Spaces of Care and Sociality in Vancouver and Paris“ aus dem Buch »Narcotic Cities«. Das Buch ist ein kollektives Projekt, in welchem Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen, Künstler:innen und Personen, die Drogen konsumieren, aus verschiedenen Ländern und Kontinenten sich dem Thema Drogen und (Counter-) Mapping gewidmet haben. 

In über 40 Beiträgen werden mittels verschiedener (karto-)graphischer Zugänge multiskalare Perspektiven auf das Thema Drogen, Kriminalisierung und Stadt dargestellt. »Narcotic Cities« ist im Jovis Verlag erschienen und für 39 Euro im Handel erhältlich. Die hier abgedruckte Übersetzung wurde von Luise Klaus mit Hilfe von KI-gestützter Technik erstellt.


Titelbild

Gewebte Karte der Downtown Eastside, Vancouver


Anmerkungen

1: Harm Reduction-Expert:innen sind Personen, die Ansätze einer schadensmindernden statt strafenden oder abstinenzorientieren Drogenhilfe verfolgen

2: Seit Veröffentlichung des Artikels 2023 wurden die Karten tatsächlich weitergewoben und sehen, laut den Autor:innen, heute ganz anders aus. Die hier gezeigten Bilder stellen dementsprechend eine Momentaufnahme dar.


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