„Ohne unsere Mobilisierungen wäre nichts möglich gewesen“

Das Banlieue „La Villeneuve“ in Grenoble sollte, wie so viele städtische Großstrukturen in Frankreich, abgerissen werden. Mit Methoden des Community Organizing setzten sich Bewohner:innen erfolgreich zur Wehr. Ein Interview mit dem Aktivisten David Bodinier.

Interview: Coline Chardon

Wie viele andere Arbeiter:innen-Viertel in Frankreich ist auch La Villeneuve von den nationalen städtebaulichen Erneuerungsprogrammen für die großen Sozialwohnungsbauten (Banlieues) betroffen. Seit 2003 sorgt das Programm, das von einer nationalen Agentur (Agence Nationale de Rénovation Urbain – ANRU) geleitet wird, für Abriss- und Wiederaufbauprojekte im ganzen Land, mit dem Ziel die soziale Durchmischung zu fördern. Das Programm gilt als Verlängerung eines schon in den 1970er Jahren gestarteten Prozesses, der durch eine Area-basierte Stadtpolitik gesellschaftliche Probleme als Probleme bestimmter Quartiere behandelt. Der massive Abriss von Hochhäusern und deren Ersetzung durch „zeitgemäße Bebauung“ wurde zum zentralen Teil der Strategie. Frankreichweit wurden seit Beginn des Programms mehr als 500 Stadtteile von der Abrisspolitik in die Mangel genommen: Oft werden rücksichtslos Orte zerstört, die vielen Bewohner:innen Identität und Rückhalt gegeben haben. Auch die anvisierte soziale Durchmischung bleibt aus. Insgesamt werden, begünstigt durch die zentrale Steuerung von Wohnprogrammen im französischen Staat, die Bewohner:innen so gut wie nie in die Planung miteinbezogen. Proteste dagegen sind aber wiederholt ins Leere gelaufen.

In Grenoble war eine Protest-Initiative gegen den Abriss erfolgreich. Wieso? Inspiriert von den ursprünglich amerikanischen Methoden des Community Organizing und des Advocacy Planning, begleitet David Bodinier seit vielen Jahren die Mobilisierungen der Bewohner:innen im Rahmen der Stadterneuerungsprozesse durch die Organisationen „Next Planning“ und „Ateliers Populaires d’Urbanisme“. Davon berichtet er im Interview.


Coline Chardon: Wie sind Next Planning und die Ateliers Populaires d’Urbanisme (abk. APU) in Grenoble entstanden? Warum hast du dich in diesen Gruppen engagiert?

David Bodinier: Ich komme aus den Bewegungen in Marseille, wo wir viel gegen den Abriss von Wohngebäuden gekämpft haben. Als ich mich intensiver mit der amerikanischen Geschichte sozialer Bewegungen und Transformationen auseinandersetzte, wurde ich auf die Methode des Advocacy Planning aufmerksam. Dabei treffen Grassroots-Bewegungen auf Architekt:innen, Stadtplaner:innen, Anwält:innen usw., die gemeinsam eine inklusivere Expertise schaffen wollen. So gründete ich zusammen mit einem anderen Kollegen 2012 das APU, das sich auf einen kleineren Bereich in La Villeneuve konzentriert. Dort wollten wir die Methoden des Advocacy Planning mit den Kollektiven, die gegen den Abriss von Sozialwohnungen kämpften, und dem interassoziativen Kollektiv Villeneuve Debout erproben.

Warum hattet ihr die Villeneuve gewählt?

Weil es ein symbolischer Ort in Grenoble ist: Er ist die Geburtsstätte der berühmten Politique de la Ville [eine staatlich gesteuerte nationale Stadtpolitik, die geographische Ungleichheiten durch städtische Planung vor allem in den Banlieues ausgleichen soll; Anm. der Interviewerin], der lokalen linken Bewegung und zu dieser Zeit den Prozessen der Stadterneuerung, wo La Villeneuve das größte lokale Projekt war.

Welche Werkzeuge und Methoden wurden von den Bewohner:innen und Aktivist:innen eingesetzt?

Wir haben damals entschieden, eine Anlaufstelle (auf Frz. „Permanence“) einzurichten, die nun seit 10 Jahren besteht. Diese Entscheidung wurde von den Arbeiten Michel Anselmes inspiriert, einem Forscher und Aktivisten, der in den 1980er Jahren in den Vierteln von Marseille tätig war. Die Anlaufstelle ist vielmehr einfach ein regelmäßiges, informelles Treffen, bei dem die Menschen spontan vorbeikommen können. Es findet ein Wissenstransfer und Kompetenzaustausch zwischen den Organizern und den Bewohner:innen statt, die den gesamten Prozess des Projekts begleiten. Wichtig ist, dass es nicht wie eine von der Behörde organisierte Sitzung wirkt.

Wir praktizieren vier Aspekte des Community Organizing: Erstens der Beziehungsansatz, das One-to-One, das zwischen Organizer:in und Betroffenen aufgebaut wird. Ziel dessen ist auch, Interessen und Werte der Betroffenen zu verstehen. Wir suchen sogenannte soziale Leader, die oft von eigens erlebten Ungerechtigkeiten motiviert werden. Die Mobilisierung soll der Geschichte der Menschen entsprechen. Der zweite Aspekt ist, eine neue Gruppe aus diesen Leadern zu bilden. Die Herausforderung dabei ist, gemeinsame Interessen zu finden, aber gleichzeitig Vielfalt zu bewahren (in Bezug auf Geschlecht, Klasse, Herkunft, Alter usw.). Der nächste Schritt sind Aktionen. Diese sollen eine öffentliche Konfliktsituation gegenüber den bestehenden Machtstrukturen schaffen. Und schließlich: die Eröffnung von Verhandlungen mit den etablierten Mächten, um Siege über die nationalen Planer:innen zu erzielen.

Haben diese Mobilisierungen Einfluss auf das politische Leben der Stadt gehabt?

Diese Arbeit hat politische Auswirkungen. Tatsächlich steht die Bürgermeisterwahl von Éric Piolle, einem grünen Politiker, im Jahr 2014 in direktem Zusammenhang damit. Es gab kollektives Streben, das dazu führte, dass politische Veränderungen 2014 in Grenoble stattfanden und nicht erst 2020, wie in anderen großen Städten, zum Beispiel Marseille oder Lyon. Einige der Anwohner:innen schlossen sich sogar der Liste an und wurden gewählt. So fanden sich unsere Vorschläge in den Versprechen der Kandidat:innen wieder.

Wie hat sich der Dialog mit dem neuen Gemeinderat „Grenoble, une ville pour tous“ im Jahr 2014 entwickelt?

Das 2014 beschlossene Lamy Gesetz zur Beteiligung von sozialen Akteuren beim Stadtbau führte dazu, dass mehr Mitsprache verlangt werden konnte. So organisierten wir mit der neuen Stadtverwaltung eine Woche der Mitgestaltung, um eine doppelte Machtstruktur bei der Entwicklung des Projekts zu schaffen. Es gab zwei Teams, zwei Protokolle, zwei Moderator:innen – nach den Prinzipien der Pluralität des Advocacy Planning. Wir erarbeiteten gemeinsam Vorschläge für die Erneuerung des Stadtteils. Leider wurden diese von der nationalen Agentur ANRU, die die finanzielle Förderung erteilt, abgelehnt. Éric Piolle sah sich der Macht einer Agentur gegenüber, die auf einer Reihe staatlicher Politiken basiert und den Wandel des neoliberalen Staates symbolisiert.

„2016 erfuhren wir bei einer offiziellen Versammlung, dass diese Gebäude vom Abriss bedroht waren. Für die Bewohner:innen war das ein Schock.“

Diese Ablehnung war eine Verhandlungstaktik, beeinflusst durch die öffentliche Immobiliengesellschaft CDC Habitat, die Interessen an bestimmten Sozialwohnungsgebäuden hatte. 2016 erfuhren wir bei einer offiziellen Versammlung, dass diese Gebäude vom Abriss bedroht waren. Für die Bewohner:innen war das ein Schock. Der Bürgermeister hatte allein entschieden, dem Abriss-Diktat der nationalen Behörde zu folgen. Der darauffolgende Kampf gegen die Abrisse belastete die Beziehungen zur neuen Stadtregierung enorm. Das Ganze endete mit einem Bürgerentscheid, bei dem die Mehrheit gegen die Abrisse stimmte. Doch das konnte die Entscheidung nicht rückgängig machen. Zum Schluss blieb eines der beiden Gebäude verschont.

Wie konnte das APU trotz dieser Niederlage das städtebauliche Projekt beeinflussen?

Unsere erste Aufgabe bestand darin, gegen den Abriss eines Gebäudes zu mobilisieren. Es gab viel Arbeit, um die Abrisspläne zu verstehen sowie mögliche Leader dagegen zu mobilisieren. Parallel dazu begannen wir, verschiedene Orte im Viertel, wie den Gemeinschaftsgarten oder den See im Park, medial sichtbar zu machen und auch als Teil des sozialen Miteinanders zu inszenieren. Auf diese Weise wurden einige Dinge, die nicht im ursprünglichen Projekt drin waren, plötzlich subventioniert. Wir hatten unsere Forderungen strategisch auf ökologische Fragen ausgerichtet und dabei gleichzeitig die Abrisse kritisiert. So wurde das urbane Projekt, das stark auf Wohnraum und öffentliche Räume fokussiert war, erweitert und vielseitiger gestaltet – mit Bereichen wie Bildung, der Umgestaltung öffentlicher Einrichtungen und wirtschaftlichen Aktivitäten.

Wenn man eine erste Bilanz zieht, kann man sagen, dass ohne das APU und seine Mobilisierungen nichts möglich gewesen wäre. Wir haben die öffentlichen Behörden davon abgebracht, Abrissprojekte durchzuführen. Es hätte viel mehr Abrisse geben können, am Ende sind 90 % des Arlequins [eine emblematische Megastruktur des Quartiers] gerettet. Es ist das einzige städtebauliche Projekt in Frankreich, das zwei ANRU-Programme mit so wenigen Abrissen übersteht. Für mich sind wir dem, was ich unter Advocacy Planning verstehe, ziemlich nahegekommen.

Die aktuelle politische Vision ist, aus Villeneuve ein „écoquartier populaire“ zu machen. Ein Oxymoron?

Es ist kein Zufall, dass „populaire“ zu „écoquartier“ hinzugefügt wurde. Das Problem liegt darin, dass der Écoquartier-Begriff auf ein Verfahren verweist, das vom Staat gefördert wird und sich an die Mittelschicht richtet. Im Rahmen des Stadterneuerungsprojekts in Villeneuve wollen die Grünen, die an die Macht gekommen sind, die Maßnahmen unter dem Aspekt der nachhaltigen Stadtentwicklung gestalten. Dies birgt jedoch die Gefahr der Gentrifizierung, da auch der Abriss von Sozialwohnungen geplant ist. Das ist ein Widerspruch.

Wir haben die offizielle Écoquartier-Charta übernommen und die verschiedenen Verpflichtungen in Bezug auf Villeneuve analysiert: Wir haben einen großen Park von 14 Hektar, Fußwege, Nahversorgungseinrichtungen, autofreie Wohnanlagen, ein Fernwärmenetz. Wir haben festgestellt, dass Villeneuve eigentlich bereits ein soziales Écoquartier ist! Es erfüllt viele der Kriterien und bleibt gleichzeitig ein Arbeiterquartier. Wir haben uns den Begriff angeeignet und dafür argumentiert, die Sozialwohnungen zu erhalten.

Es ist sehr interessant zu sehen, wie sich die Auswirkungen der ANRU-Programme entwickelt haben, die ursprünglich viele Abrisse vorschrieben. Doch durch Kämpfe und Verhandlungen zeigt sich, dass es dennoch Spielräume gibt.

Ja, genau. Es ist uns gelungen, die Idee des „städtischen Projekts“ wieder als etwas zu etablieren, das nicht festgelegt oder endgültig ist. Es entsteht durch den Dialog, eine Vielzahl von Akteuren und Konflikten. Das haben wir hier deutlich gesehen: Auch wenn die Projekte sehr starr sind, konnten wir aus diesem Sanierungsvorhaben ein wirkliches städtisches Projekt zu machen. Dann stellt sich die Frage der Entscheidungsfindung. Ich denke, die Antwort liegt irgendwo zwischen allen Beteiligten. Es gibt kein zentrales Entscheidungsorgan mehr, sondern eine Vielzahl von Akteuren, die sich zu bestimmten Zeiten zusammenschließen und zu anderen wieder auseinandergehen.

Genau hier geht das Advocacy Planning einen Schritt weiter. Beim Community Organizing ist das Verhältnis zur Macht oft zu binär. Heutzutage haben wir diffuse Machtstrukturen, und um städtische Politiken zu verändern, muss man an verschiedenen Stellen ansetzen, um letztlich Initiativen hervorzubringen, die von den Institutionen übernommen werden. Irgendwann wird das APU nur noch in Artikeln oder Büchern vorkommen. Aber wir werden eine neue Geschichte haben, und ich hoffe, dass man sagen kann, dass ein Teil der zukünftigen Nutzungen von Villeneuve durch unsere Praktiken gefestigt wurde.


Interview

Coline Chardon ist Doktorandin am Lehrstuhl für Umweltsozialwissenschaften und Geographie an der Universität Freiburg. Sie interessiert sich für die Postwachstumsstadt und forscht in Grenoble über kommunale Handlungsspielräume, die soziale Gerechtigkeit und ökologischer Wandel voranbringen.

Methoden-Box: Community Organizing

Das Community Organizing ist eine der dominierenden Formen kollektiven Handelns in den USA und wurde durch die Arbeit vom Soziologen und Schriftsteller Saul Alinsky (1909–1972) weltweit popularisiert. Seine Methoden trugen zur Entstehung zahlreicher Bürgerorganisationen in amerikanischen Städten bei, die unter dem Dach der Industrial Areas Foundation (IAF) vereint sind. Dabei sollen klassen- und ethnoübergreifende Allianzen geschaffen werden, die sich auf die starken Bindungen einer Community stützen. Diese Form des Aktivismus bezieht sich auf Methoden und Praktiken zur Mobilisierung von Bewohner:innen aus der Arbeiterklasse, und dient zur Verbesserung der alltäglichen Lebensbedingungen (Wohnung, Bildung, Mobilität, Beruf usw.).

Saul Alinsky (1989): Rules for Radicals: A Practical Primer for Realistic Radicals. New York, Vintage Books (PDF)

Methoden-Box: Advocacy Planning

Das Advocacy Planning ist eine Methode, die in den 1960er Jahren in den USA im Kontext der urbanen Renovierung entstanden ist. Diese Ansätze basieren auf den Theorien von Paul Davidoff (1930–1984). Er stellte fest, dass die Stadtplanung nicht die Interessen aller Bürger:innen vertreten konnte und plädierte für eine inklusivere und diverse Expertise. Dabei sollen unabhängige Fachleute (wie etwa Architekt:innen, Stadtplaner:innen, Anwält:innen) sich an die Seite der Arbeiterklasse stellen, um ihre Interessen zu verteidigen und so eine gerechtere urbane Produktion zu fördern.


Fotos

© Benjamin Bultel, Le Crieur de la Villeneuve: lecrieur.net


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