Zwischen sozialer Arbeit und Guillotine im Berliner Villenviertel Grunewald – Eine Reportage
Carla Remotius
Im Berliner Villenviertel Grunewald ist der 1. Mai der „Tag der sozialen Arbeit“. Seit 2018 lädt das selbsternannte „Quartiersmanagement Grunewald“ zur Großintervention – für viele Berliner:innen inzwischen ein Ritual und eine der größten Demos am 1. Mai. Doch wer steckt hinter dem Protestspektakel? Was treibt die Aktivist:innen an? Spurensuche im Berliner Südwesten.
Lange stand die protzige Villa Noelle im Grunewald leer, bis sie schließlich vom „Quartiersmanagement Grunewald“ bezogen wurde. Ob Besetzung oder Zwischennutzung – auf diese Frage will niemand recht antworten. Zum Gespräch haben sich drei Aktivist:innen der Gruppe eingefunden. Der Duft frischen Kaffees durchweht das heruntergekommene und dennoch prunkige Zimmer, Feingebäck steht auf Tafelporzellan bereit. Ein nahezu bürgerliches Ambiente – wären da nicht der Geruch nach Farbe, abgestrahlt von frisch gemalten Transpis, die über der notdürftig abgekratzten Tapete an den Wänden prangen. Es ist Mitte April und die Protestmaschine scheint auf Hochtouren zu laufen. „Umverteilung oder Barbarei“, „Keine HotTubs für KriminalitätHotSpots“ oder „Trickle Down!? Pump it Up!!“ sind nur einige der Slogans, die ins Auge springen.
Sozialarbeit im Villenviertel
Frauke Geldher ist autonome Sozialarbeiterin der ersten Stunde. Beherzt gießt sie Kaffee ein und beginnt auf einladende Art zu erzählen. „Als Quartiersmanagement Grunewald leisten wir aufsuchende Sozialarbeit vor Ort im Problemkiez. Die soziale Situation hier ist schwierig: Abgehängt von der Mehrheitsgesellschaft hat sich über viele Jahre eine gefährliche Parallelgesellschaft gebildet“, eröffnet sie. „Das Viertel ist geprägt von Wohlstandsverwahrlosung und einem hohen Aufkommen von Straftaten im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Die hohen Vermögenswerte führen zu Angst. Die Menschen schotten sich hinter hohen Zäunen systematisch ab und soziales Leben im öffentlichen Raum findet kaum mehr statt. Auch politisch sind viele abgedriftet, der parlamentarische Arm des Finanzextremismus (FDP) genießt hohe Zustimmungswerte“. Probleme hin oder her, warum der Fokus auf eine der privilegiertesten Teile der Stadt, wo doch die Ressourcen da sein sollten, sich selber Hilfe zukommen zu lassen? „Armut und die psychosozialen Konsequenzen stehen oft im Mittelpunkt von kiezbezogenen sozialarbeiterischen Bemühungen“, erklärt Aktivist Rudi Rammbock. „Mit unserer aufsuchenden Sozialarbeit hier im Villenviertel legen wir den Fokus auf das Problem extremen Reichtums, auf die Folgen für die unmittelbar Betroffenen und die Gesellschaft als Ganzes“. Folgt man der Rhetorik der Aktiven des Quartiersmanagements, scheint man dem Problemklientel stets eine Hand hinzustrecken – während die andere zum Schlag ausholt: „Die Selbstenteignung und Umverteilung, zu der wir aufrufen, ist gewissermaßen die vegane Variante zur Guillotine – soweit muss es ja nicht kommen“, sagt Rudi Rammbock. „Wir sagen den Reichen hier im Grunewald: Ihr seid Teil des Problems, aber ihr könnte auch Teil der Lösung werden. Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg.“ Gut gelaunt und routiniert referieren die Aktivist:innen bei dampfenden Kaffeetassen die Narrative des Quartiersmanagements. Unmöglich, hinter diese Fassade zu schauen?
Ein Porsche im Grunewald wird anders geschützt als ein Fahrrad in Kreuzberg
Seinen Ursprung nahm das Quartiersmanagement 2018, als unter dem Motto „MyGruni“ zum ersten Mal seit den 1980er Jahren zum Kampftag der Arbeiter:innen in den Grunewald mobilisiert wurde. Inspiriert vom MyFest, mit dem der Berliner Senat versuchte mit Kunst und Kommerz den als krawallig bekannten 1. Mai in Kreuzberg zu „befrieden“, entstand MyGruni. 200 Teilnehmende waren angemeldet – es kamen: rund 7000. „Über Stunden war der Problemkiez mit autonomen Sozialarbeiter:innen geflutet, praktisch ohne Polizeipräsenz“, erinnert sich Rammbock, Aktivist beim Quartiersmanagement. Als die zunächst vollkommen überforderte Polizei dann durchgriff, kam es nicht nur zu zahlreichen Festnahmen. Auch das juristische Nachspiel war außergewöhnlich: Konfettiwürfe, das Aufkleben von Stickern und Klingelstreiche wurden als Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch zur Anzeige gebracht, insgesamt kam es zu über 70 Anzeigen. In Kreuzberg sind es pro 1. Mai durchschnittlich 25. „Ein Porsche im Grunewald wird anders geschützt als ein Fahrrad in Kreuzberg. Seit dem zweiten Tag der sozialen Arbeit liegen wir im paranoiden Bereich einer Ein-zu-Eins-Betreuung Polizei / autonome Sozialarbeiter:innen“, sagt Frauke Geldher dazu. „Das Geld für die maßlosen Polizeieinsätze wäre in sozialer Arbeit sicherlich besser investiert, gleichzeitig wird klar: schon das Betreten des diskreten Villenviertels ist eine Grenzüberschreitung, ein politischer Akt“. The Place is the Message? Tatsächlich scheint die räumliche Dimension eine wesentliche Zutat des Protests, gewürzt mit der Verkehrung gesellschaftlicher Narrative, die zum Teil auch in linksliberalen Milieus als selbstverständlich gesehen werden. Statt dem ehemals linksautonom geprägten Kreuzberg wird das noble Villenviertel zum Schauplatz des Protests. Nicht die Armut und die klassischen „kriminalitätsbelasteten Orte“ sind das Problem, sondern der Reichtum mit seinen diskreten Formen der Kriminalität. Nicht Altbau und Platte beheimaten die soziale Verwahrlosung, sondern die Villa mit ihrem meterhohen Zaun und angstbestimmter Abschottung. Wer hat, hat Angst.
Ist das noch Protest – oder schon Kunst?
Am Institut für Bewegungs- und Protestforschung treffen wir Rowena Rewolta. Sie beschäftigt sich wissenschaftlich mit den räumlichen Dimensionen von Protest. „Die ungleiche Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen ist Thema, das für viele Menschen abstrakt ist. Die Zahlen sind immens und oft kaum greifbar“, sagt sie. „Der Protest von MyGruni gibt dem Phänomen eine räumliche Komponente, plötzlich wird sichtbar und spürbar wie sich die Ungleichheit auswirkt. Das beeinflusst das Denken, aber auch unser Gefühl zu dem Phänomen“, so Rewolta. Über das Quartiersmanagement zu sprechen, bereitet der Forscherin sichtbar Freude. Ob sie selbst schon zum 1. Mai im Grunewald war? Ein Lächeln huscht über das Gesicht der sonst so wissenschaftlich-nüchtern wirkenden Person. „Die Ausflüge in den Grunewald bedeuten embodiment und Verräumlichung des Protests. Der eigene Körper wird mit denen tausender anderer aus der Kernstadt in die Peripherie bewegt, der Raum wird spürbar, Reichtum und Ungleichheit werden multisensorisch perzipiert. Die physische Präsenz, das Erleben am Ort selbst schreibt sich gleichermaßen ein in Körper wie den diskursiven und physischen urbanen Raum. So entsteht ein perceptive spatial discursive shift“, referiert Rewolta mit leuchtenden Augen. Ist das noch Protest – oder schon Kunst?
„Der Grunewald ist einfach das perfekte Ausflugsziel für einen politischen Rave-Spaziergang mit der ganzen Familie.“
In der Villa Noelle rufen die Ausführungen aus Academia eine Mischung aus Belustigung und rollenden Augen hervor. Sind solche Überlegungen Teil der Planungen der autonomen Sozialarbeiter:innen? „Quatsch mit Soße“, sagt Geldher und beißt genussvoll in eine Waffel mit ziemlich viel Schlagsahne. „Der Grunewald ist einfach das perfekte Ausflugsziel für einen politischen Rave-Spaziergang mit der ganzen Familie. Wenn man damit noch was Gutes tun und etwas Spaß haben kann – perfekt“. Überhaupt, zu Kunst und Kunstaktivismus scheint man im Quartiersmanagement ein ambivalentes Verhältnis zu haben. Viele der Aktiven sind selbst Künstler:innen zwischen Jodeln, Chanson-Punk, Plakatmalerei und Theater – Einflüsse, die auch bei den Aktionen des Quartiersmanagements spürbar sind. So produzierte die Gruppe einen Audio-Walk durch den Problemkiez oder verteilte eine agitatorische Foto-Love-Story tausendfach auf den Schulhöfen der Grunewalder Gymnasien. 2020 inszenierte die Gruppe mit der Grunewalddämmerung eine „Enteignungsoper“ und setzte dabei stilistisch auf eine „klientelgerechte Ansprache“ des konservativ-hochkulturell orientierten Publikums im Grunewald. Ob am 1. Mai oder bei der Enteignungsoper – die MyGruni-Strategie scheint eine doppelte zu sein: Immer geben die Aktivist:innen anderen Gruppen verschiedenster Couleur eine Bühne, vom Obdachlosenparlament über „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ bis hin zu „Theater X“ und verschiedensten Musikprojekten. Dabei werden die Beiträge und überhaupt alle, die mitmachen, zum Teil einer großen Erzählung, Akteure einer Geschichte, die den Diskurs gewissermaßen austrickst, verschiebt, auf den Kopf stellt. „Wir haben es hier mit einer Mischung aus Demonstration und Protesttheater zu tun, die zu einer Art präfigurativer Politik verschmilzt“, schwärmt Rowena Rewolta vom Institut für Bewegungs- und Protestforschung.
Superreiche werden der Wohlstandsverwahrlosung überlassen
Im Quartiersmanagement selbst klingt das alles etwas bodenständiger. Zurück in der steinernen Villa Noelle erklärt Rudi Rammbock das Vorgehen: „Am Ende geht es immer um Fokus. Was wird in den Blick genommen, was wird problematisiert? Schwarzfahren oder Cum-Ex? Die Sonnenallee oder der Grunewald? Armut oder Reichtum? Soziale Ungleichheit hat viele Facetten“. Wenn Durchsuchungen plötzlich nicht mehr nur in der Neuköllner Shisha-Bar stattfinden, sondern als Finanzrazzien durch die SEK (Spezial-Enteignungskräfte) im Villenviertel, wenn per Wärmebild-Videodrohne die Temperatur von privaten Luxuspools gemessen wird, scheint sich der Fokus durchaus zu verschieben. Mit unserem Ansatz aufsuchender Sozialarbeit widmen wir uns jenen Formen des Phänomens, die gesellschaftlich kaum problematisiert werden. Superreiche werden von der Sozialarbeit oft vernachlässigt und der Wohlstandsverwahrlosung überlassen“. Seine Mine bleibt dabei offen und herzlich – und ist gleichsam undurchschaubar. Nur ein verschmitztes Lächeln, das hin und wieder in seinem Gesicht aufblitzt, zeigt, dass er großen Spaß an der Sache zu haben scheint.
Und das scheint am 1. Mai auch für tausende „autonome Streetworker:innen“ zu gelten. Genau genommen sind es in diesem Jahr autonome Klempner:innen, Hydrolog:innen und Wasserbauingeneur:innen, die bei strahlendem Sonnenschein den Hagenplatz im Herzen des Villenviertels geradezu fluten. Viele sind in Blaumann unterwegs, andere tragen Laborkittel – und überall glänzt, glitzert und funkelt es verheißungsvoll. Unter den fünf Lauties: ein Hänger mit einer beeindruckenden, überlebensgroßen Pumpe. „Ob Tesla in Grünheide oder die Kohlekraft in der Lausitz: An allen Ecken und Enden wird uns das Wasser abgegraben – die sozialen und ökologischen Folgen sind immens“, schallt ein Redebeitrag vom Lauti. „Der Trickle-Down-Effekt ist ein Mythos, der Cashflow kennt nur eine Richtung: Nach oben, und zwar auch hier ins Villenviertel Grunewald. In den Kiezen schließen die Schwimmbäder, im Grunewald schwimmt man in Geld. Wir können uns diesen Reichtum nicht mehr leisten! Zusammen sind wir heute hier, um den Cashflow umzukehren. Wir werden heute ordentlich abpumpen, damit die Gesellschaft wieder liquide wird“. Nächster Redebeitrag, Rita Reichtum von „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ruft über den Platz. „Wer kann sich schon den Tesla leisten, für den grade Brandenburg trockengelegt wird?! Ich kann mir kaum mehr meine Miete leisten. Und die wird dann zum größten Teil als Dividende abgeschöpft und versickert hier im Grunewald. Da ist auch ein Mietendeckel nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wir müssen den Cash Flow umkehren!“ Es ist der letzte Beitrag, bevor sich der Zug in Bewegung setzen soll. Plötzlich fliegen Wasserbomben aus der Menge und treffen autonome Klempner:innen, Polizist:innen, zerplatzen an den Wänden der protzigen Villen. Lautes Gejubel über die willkommene Abkühlung, sichtbare Nervosität bei den Einsatzkräften. Wie aus dem Nichts schießt plötzlich eine gigantische Wasserfontäne aus der Mitte der Versammlung – ein Straßenhydrant muss geöffnet worden sein. Zu einem knalligen Bass tanzen Tausende euphorisch im feinen Sprühregen, der auf sie niedergeht – die vermutlich größte Wasserschlacht, die der Grunewald je gesehen hat. Schließlich setzt sich der Zug in Bewegung, auf zum großen Abpumpen.
Protest muss auch Spaß machen
Mit Wasserverschwendung gegen Wasserverschwendung – ergibt das nun Sinn? Bei wummerndem Bass antwortet Frauke Geldher, in ihrer Stimme Euphorie und Freude, aber auch ein Hauch von Empörung. „Verschwendung?! Was für einen sinnvolleren Einsatz von Wasser kann es geben als den für eine Wasserschlacht?“, lacht sie. „Wir sind hier, weil Protest auch Spaß machen darf, machen muss. Wir nehmen uns selbst nicht zu ernst, und das gilt auch für das, was wir hier machen. Die Message ist trotzdem da, sie kommt an und wird anders als bei anderen Demos auch medial diskutiert“. Dass die autonomen Sozialarbeiter:innen, nein, Hydrolog:innen Jahr für Jahr zu tausenden in den Grunewald strömen, scheint das zu bestätigen. Und auch ein Blick in die Zeitungen zeigt: Das Thema schlägt durch und der Zusammenhang von ökologischem Wahnsinn und extremem Reichtum wird diskutiert – auch die Bilder von der riesigen Cash-Pumpe aus dem Grunewald tauchen dabei auf. So tröpfeln radikale Perspektiven in den Diskurs. Und im Grunewald hat man währenddessen tatsächlich eine Menge Spaß – die womöglich wichtigste Zutat des MyGruni-Aktivismus.
Fotos
© Andaras @siehs_mal und Pressereferat Quartiersmanagement Grunewald