Der Film »Gagarin – einmal schwerelos und zurück«
FELIX LACKUS
Der Film »Gagarin« von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh (2020) erzählt aus der Sicht des Jugendlichen Youri (Alséni Bathilym) von den letzten Tagen der Cité Gagarine, einer Siedlung im Banlieue des Pariser Vororts Ivry-sur-Seine, die 2019 tatsächlich abgerissen wurde. Er wurde noch kurz vor Abriss im Wohnkomplex gedreht und stellt damit eine großartige Hommage und Erinnerung an die verloren gegangene Siedlung und deren Bewohner:innen dar. Kunstvolle Kamerafahrten setzen dabei die Struktur, den Rhythmus und die Ästhetik der Architektur in Szene. Der Film wirft künstlerisch anspruchsvoll und mit inhaltlicher Tiefe einen differenzierten Blick auf den Städtebau der Moderne. Eine einseitige Bewertung dieses baulichen Erbes wird kritisiert und stattdessen eine wertschätzende Darstellung der sozialen Vielfalt des Wohnkomplexes entgegengesetzt
Die verfallende Großwohnsiedlung, die nach dem Astronauten Yuri Gagarin benannt wurde, ist Youris Zuhause und sein soziales Umfeld. Da sich sonst niemand zuständig fühlt, versucht er mit seinem besten Freund Houssam (Jamil McCraven) den maroden Wohnblock selbstorganisiert wieder instand zu setzen, um ihn vor dem Abriss zu bewahren. Sie tauschen kaputte Beleuchtungen aus, reparieren die Aufzüge und ertüchtigen Elektrik und Heizung. Unter dem Motto „Gagarine forever“ versuchen sie vergeblich, die Nachbarschaft zu motivieren, sich für Ihren Wohnblock zu engagieren und zum Beispiel etwas Geld für Reparaturen beizusteuern. Unterstützt werden Sie dabei von Diana (Lyna Khoudri), die ebenfalls unter prekären Umständen in den Wohnwägen der benachbarten Roma-Siedlung lebt.
Die Vorstellung von Youri und seinem Freund Houssam, den riesigen Gebäudekomplex selbstorganisiert instand setzen zu können, ist so liebenswert wie naiv. Die Sozialbauten wurden von einem fürsorgenden Sozialstaat errichtet, der sich jedoch aus seiner Verantwortung für Pflege und Instandhaltung der Gebäude zurückgezogen hat. Diese Lücke ist im modernen Wohnungsbau für die Bewohner:innen nur schwer über Partizipation und Selbstorganisierung zu füllen. Schließlich wird aus baulichen Gründen der Abriss der Siedlung beschlossen und die Bewohner:innen werden umgesiedelt.
Youri wird von seiner Mutter versetzt und bleibt als Einziger in der verlassenen Cité Gagarine zurück. Seine Wohnung richtet er als einsame und autarke Raumkapsel ein. „Kennst du die himmlischen Vororte?“, fragt er Diana, als sie nachts auf dem Baukran sitzen und auf die Baustelle der leeren Cité Gagarine blicken. „Sie sind die Atmosphäre um einen Stern, ohne sie kann der Stern nicht leben.“ Mit dem Abriss des Gebäudes wurden die Bewohner:innen in alle Winde zerstreut und die Community zerstört. Auch die benachbarte Wohnwagensiedlung wird geräumt und mit dem erzwungenen Weggang von Diana verlässt die letzte Weggefährtin von Youri die Nachbarschaft.
Der Film Gagarine ist ein sehenswertes Plädoyer für die Bewahrung gewachsener Nachbarschaften und macht die soziale Funktion des Zusammenhalts der Bewohner:innen deutlich. Beim Aus- und Umzug greifen sich die Bewohner:innen noch gegenseitig unter die Arme, danach sind alle auf sich allein gestellt. Houssam berichtet Youri, dass sein neues Zuhause zwar größer und komfortabler sei, dafür aber niemand miteinander spreche und alle anonym nebeneinander lebten. Eine ähnliche Erfahrung haben viele Menschen gemacht, als sie in den 1960er- und -70er Jahren aus den abrissbedrohten Altbauen in die Neubauten am Stadtrand gezogen sind.
Auch in Deutschland wird im Umgang mit den oft sanierungsbedürftigen Gebäuden des modernen Wohnungsbaus oftmals Abriss als einzige Option dargestellt. Sozialer Zusammenhalt, Nachbarschaft, Identität und Freundschaft sind Werte, die dabei nicht in diese Entscheidung einbezogen werden. Dass Abriss aufgrund der enormen Energie- und Ressourcenverschwendung auch aus ökologischer Perspektive vermieden werden sollte, findet in dem Film keine Erwähnung. Die Argumente für die Bewahrung der Cité Gagarine und den dortigen gewachsenen sozialen Strukturen sind auch so ausreichend stark.
»Gagarin – einmal schwerelos und zurück« ist ein großartiger kunstvoller Film, der den Wert gewachsener Nachbarschaften eindrücklich vermittelt und die zerstörerische Wirkung von Abriss und Neubau anschaulich darstellt. Eine absolute Empfehlung! Es gäbe noch viel mehr zu sagen, doch zieht ihn euch am besten selbst rein!
▷ Felix Lackus ist Teil der Común-Redaktion.
▷ »Gagarin – Einmal schwerelos und zurück« (Originaltitel: »Gagarine«), Frankreich 2020, 95 Minuten, Regie: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh