Ein Rückblick auf das Manifest „Not in Our Name, Marke Hamburg“
Niels Boeing und Christoph Twickel
Vor 15 Jahren veröffentlichten Künstler:innen, Musiker:innen und Kreative in Hamburg das Manifest „Not in Our Name, Marke Hamburg“: eine Intervention gegen die neoliberale Stadtentwicklungspolitik der Hansestadt unter dem schwarzgrünen Senat von Ole von Beust. Die Hamburger Journalisten und langjährigen Aktivisten Niels Boeing und Christoph Twickel – Autor des Manifests – blicken zurück: Welche Wirkung hatte das Manifest damals, welche Bedeutung hat es heute noch?
Niels Boeing: Vor 15 Jahren hast du mit anderen das Manifest „Not in Our Name, Marke Hamburg“ veröffentlicht. Das war kurz nach der Besetzung des Hamburger Gängeviertels und schlug im stadtpolitischen Diskurs wie eine Bombe ein. Schon der Anfang war fulminant: „Ein Gespenst geht um in Europa, seit der US-Ökonom Richard Florida vorgerechnet hat, dass nur die Städte prosperieren, in denen sich die kreative Klasse wohlfühlt.“ Wie siehst du den Text, der ja maßgeblich aus deiner Feder stammt, im Rückblick?
Christoph Twickel: Damals regierte in Hamburg ein schwarz-grüner Senat. Der hat auf dieses neoliberale Wirtschaftswunder gesetzt, das Florida verspricht: Wenn eine Stadt nur die richtigen kreativen Talente anlockt, dann prosperiert sie, dann verbreitet sich in einem Trickle-down-Effekt der Wohlstand. Die Schlüsselfiguren für diese These waren eben die sogenannten Kreativen. „Cities without gays and rock bands are losing the economic development race“, hat Florida geschrieben. Unser Manifest hat seine Wirkung entfalten können, weil wir eben aus der Position dieser Kreativen gesagt haben: Nein, wir machen den Scheiß nicht mit. Wir wollen nicht die Karotte sein, die man dem Esel vor die Nase hängt, und dann kommt das Kapital hierher – wir wollen eine andere Politik.
Niels Boeing: Gut fand ich in dem Manifest die Darstellung, dass die Stadt ein recht instrumentelles Verhältnis zu den Kreativarbeiter:innen hat. Hamburg hat sich nie als große Kulturstadt verstanden, sondern als Dienstleistungsstadt, Medienstadt, Hafenstadt, dazu etwas Großindustrie mit Airbus sowie Chemie und Pharma. Der Rest, der konnte immer so mitlaufen. Daran hat sich meines Erachtens leider nicht viel geändert. Insofern finde ich, dass der Text nicht gealtert ist, wie man das so sagt. Da sind immer noch interessante Passagen drin. Nur dass jetzt halt Tschentscher nicht rumrennt und meint, alle müssten Richard Florida lesen, wie es der damalige Bürgermeister Ole von Beust tat.
Christoph Twickel: Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass das Manifest heute noch so funktionieren würde. Damals hatten die Grünen Angst vor den renitenten Kreativen. Die meisten in der SPD, die inzwischen seit 13 Jahren regiert, halten Sub- und Offkultur eh für eine Spielwiese von Bürgertöchtern und -söhnen. In Hamburg müssen die subkulturellen Kreativen, wie die Hallo-Festspiele oder die Mundhalle, wieder sehr stark mit ihrem stadtentwicklungspolitischen Potenzial werben, um überhaupt ein Bein auf den Boden zu kriegen.
„PLÖTZLICH SASSEN WIR DA MIT OLAF SCHOLZ UND ANDI GROTE IN EINEM HINTERZIMMER IM GRÜNSPAN UND HABEN DAS RECHT AUF STADT DISKUTIERT.“
Niels Boeing: Ursprünglich erschien euer Manifest in einem gefaketen Magazin von Hamburg Marketing, das mit „Unter Geiern“ betitelt war. Das allein war schon ein Coup. Dann druckte es die ZEIT vollständig ab. Welche Reaktionen gab es noch auf das Manifest?
Christoph Twickel: Als es in der ZEIT abgedruckt wurde und auch im Abendblatt, rief mich Andy Grote an, der damals noch SPD-Bezirkspolitiker in Sankt Pauli war, und beglückwünschte mich.
Niels Boeing Ach echt?
Christoph Twickel Klar, die SPD war ja Opposition. Er meinte, der schwarzgrüne Senat hätte ja das Thema Gentrifizierung gar nicht auf dem Zettel – man müsse doch nur mal den Koalitionsvertrag lesen. Dann hat er ein Treffen mit Olaf Scholz organisiert, im Musikclub Grünspan. Für die Nicht-Hamburger:innen: Andy Grote wurde später Bezirksamtsleiter und ist jetzt seit 2016 Hamburger Innensenator. Plötzlich saßen wir da mit Scholz und Grote in einem Hinterzimmer im Grünspan und haben das Recht auf Stadt diskutiert. Mein Eindruck war: Okay, die haben Lunte gerochen, haben gemerkt: Wohnen ist die sozialpolitische Frage, die sie sich unbedingt auf die Fahnen schreiben müssen.
Niels Boeing Das hat die SPD dann ja auch gemacht und ist damit ein Jahr später in den Wahlkampf zur Bürgerschaftswahl Anfang 2011 gezogen.
Christoph Twickel Sie haben damit dann auch die Bürgerschaftswahl gewonnen. Seitdem gibt es in Hamburg den sogenannten Drittelmix, der besagt, das bei Neubauprojekten mindestens ein Drittel Sozialwohnungen sein müssen – mit einigen Ausnahmen.
Niels Boeing: Kritik am Manifest kam damals interessanterweise von ganz anderer Seite – nämlich aus der linken Szene.
Christoph Twickel: Und auch aus der Kreativszene. Ich erinnere mich daran, dass ich Ende 2009 auf irgendeiner Diskussionsveranstaltung der Musikbranche war und einige Leute sehr böse auf mich waren. Die haben sinngemäß gesagt: Jetzt haben wir so lange daran gearbeitet, dass die Stadt endlich einsieht, dass sie ein bisschen Geld ausgeben muss, um die kreativen Branchen zu fördern. Wir haben jetzt endlich den politischen Rahmen gefunden, in dem wir das aufstellen können – die sogenannte Kreativwirtschaft. Und jetzt kommt ihr mit diesem Manifest und haut uns das in Stücke, indem ihr den Begriff der Kreativen ablehnt und unterlaufen wollt.
„DER VORWURF WAR, WIR WÜRDEN UNS ZU SEHR MIT DENEN INS BOOT SETZEN, DIE DIESE STADT KAPITALISTISCH DURCHSORTIEREN WOLLEN. WIR SEIEN NICHT RADIKAL GENUG. WIR MÜSSTEN MEHR IN DIE VERWEIGERUNGSHALTUNG GEHEN.“
Niels Boeing: Aber du hast dich auf Richard Floridas Framing von der „Kreativen Klasse“ bezogen.
Christoph Twickel: Wir fanden: Wir wollen nicht die Kreativen sein, die das Kapital anlocken. Aus Sicht der Kritiker:innen war das aber eher so: Wir bohren hier das dicke Brett, wir machen Kommunalpolitik, wir versuchen, Gelder locker zu machen, damit die Clubs gefördert werden können, damit Zwischennutzungen möglich sind. Wahrscheinlich waren auch beide Positionen richtig. Ich glaube nach wie vor, unser „Nein“ war damals wichtig. Gleichzeitig profitiert diese Stadt natürlich auch davon, dass es eine Lobby von Leuten gibt, die sich um die Kreativbranchen kümmern. Die sich zum Beispiel zum Clubkombinat zusammenschließen und versuchen, irgendwie den Niedergang der Clubs dadurch zu verhindern, dass über die Kulturbehörde Gelder reinkommen, oder die sich Stiftungsmodelle ausdenken.
Niels Boeing: Etwa ein Jahr später kam es im Golem – das war damals ein dezidiert linker Salon mit Club – zu einer denkwürdigen Veranstaltung: Du wurdest auf ein Podium geladen, um dich einer linken Kritik am Manifest zu stellen. Ich empfand das damals fast schon als Inszenierung eines Tribunals. Du saßt da mit den Künstler:innen Hans Christian Dany und Kerstin Stakemeyer auf dem Podium.
Christoph Twickel: Ich habe die Audiodateien davon wiedergefunden und nochmal reingehört: Ich war echt pampig an dem Abend. Aber im Nachhinein habe ich das Gefühl, dass es die Position, die uns dort entgegengehalten wurde, eigentlich nicht mehr gibt. Der Vorwurf war, wir würden uns zu sehr ins Boot mit denen setzen, die diese Stadt kapitalistisch durchsortieren wolllen. Wir seien nicht radikal genug. Wir müssten mehr in eine Verweigerungshaltung gehen. So habe ich jedenfalls die Message von Kerstin Staakemeyer und Hans Christian Dany, der gerade das Buch „Heute werde ich Idiot“ veröffentlicht hatte, verstanden. Man müsse sich eigentlich in so eine Idiotenposition der Verweigerung begeben, um zu verhindern, dass die Subkultur, die man da auslebt, irgendwie kapitalistisch urbar gemacht wird. Mit so einer „Hauptsache ich bleib unangreifbar“-Position konnte ich noch nie etwas anfangen. Uns ging es ja darum, dass wir in dieser Stadt, in Hamburg etwas bewegen wollten. Und wir haben ja 2009, 2010 auch einiges bewegt, weil wir es geschafft haben mit dem Netzwerk Recht und Stadt, das Thema Gentrifizierung und bezahlbarer Wohnraum wieder auf die politische Agenda zu setzen.
„ES GING DARUM, EINE HALTUNG ZU ENTWICKELN. MIT DER IST ES DANN AUCH MÖGLICH GEWESEN, ETWAS DURCHZUSETZEN.“
Niels Boeing: Das mit dem Agenda-Setting hat in der Anfangszeit von Recht auf Stadt tatsächlich sehr gut funktioniert am Anfang. Bei dieser Golem-Veranstaltung erinnere ich mich noch an einen anderen Vorwurf: Dass das Manifest sich auf diesen Diskurs mit der kreativen Klasse einlässt und damit selbst quasi neoliberal durchtränkt ist. In dem Moment war ich echt sprachlos – was soll denn das für ein Vorwurf sein?
Christoph Twickel: Ach, ich glaube, das kann man auch alles so sehen. Wenn man es ideologiekritisch anfasst, ist da schon was dran. Du willst als echte:r Künstler:in nicht vereinnahmt werden und ein Protest gegen diese Vereinnahmung ist dann Ausweis deiner Authentizität und macht dich vielleicht sogar noch interessanter. Vielleicht haben ja bei der „Hamburg Marketing“ sogar die Sektkorken geknallt, als das Manifest herauskam. Nach dem Motto: Guck mal, so toll, renitent, authentisch ist unsere Hamburger Künstler:innenschaft. Das mag auch alles sein. Trotzdem glaube ich, dass es wichtig war, um den Initiativen, die es damals gab – im Gängeviertel, bei den Initiativen gegen Ikea in Altona – so eine Vorlage zu liefern. Nach dem Motto: Wir lassen uns nicht für eine neoliberale Stadtentwicklung in den Dienst nehmen. Das war ernst gemeint und das hat auch was gebracht.
Niels Boeing: Ich würde das Manifest auch immer im Kontext dieser damaligen Konflikte sehen.
Christoph Twickel: Es ging darum, eine Haltung zu entwickeln. Mit der ist dann auch möglich gewesen, etwas durchzusetzen. Immerhin haben wir mit den Protesten gegen die IKEA-Ansiedlung in Altona erreicht, dass die Fux e.G. die Viktoria-Kaserne von der Stadt hat übernehmen können. Wir haben die Netzwerke ausgebaut, Räume geschaffen und Schneisen in die unternehmerische Stadt geschlagen, um es etwas pathetisch zu formulieren.
„DAS MANIFEST LIEFERTE DIE THEORETISCHE UNTERMAUERUNG, WORUM ES EIGENTLICH GING. DIE GÄNGEVIERTEL-BESETZUNG WAR ZUGLEICH DER SICHTBARE GRÜNDUNGSAKT DES NETZWERKS RECHT AUF STADT.“
Niels Boeing: Das sehe ich auch so. In diesem zweiten Halbjahr 2009 war eine Menge Dampf in der Hamburger Stadtpolitik. Die Besetzung des Gängeviertels am 22. August 2009 war der praktische Auftakt, ein echter Knall. Das Manifest lieferte die theoretische Untermauerung, worum es da eigentlich ging. Für mich war die Gängeviertel-Besetzung zugleich der sichtbare Gründungsakt des Netzwerks Recht auf Stadt, das sich kurz zuvor gebildet hatte. Das hatte sich zwar schon über zwei Jahre angebahnt. Aber nun konnte die Politik nicht mehr dran vorbei schauen. Das war eine Leistung. Tatsächlich haben wir diese Wirkmächtigkeit aber in den Jahren danach nicht mehr erreicht. Leider.
Christoph Twickel: Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die außerparlamentarische Linke längst ihre Hegemonie als Protestbewegung verloren hat. Und wenn man es genau nimmt, muss man sagen, es gab ja auch in dieser Zeit, also in den späten nuller und zehner Jahren, erfolgreiche Protestbewegungen von rechter oder konservativer Seite, zum Beispiel die Initiative gegen die Hamburger Schulreform „Wir wollen lernen“. Die hat es geschafft, eine egalitäre Schulform zu verhindern. Das war eine von Leuten aus den besseren Stadtteilen getragene Bewegung, die verhindern wollte, dass ihre Kinder mit dem Pöbel zusammen die Schule gehen. Und als 2015/16 die so genannte Flüchtlingskrise viele Menschen aus Syrien und Afghanistan in die Stadt brachte, gab es vor allem in den Vorort-Stadtteilen von Hamburg diese „Initiative für gelungene Integration“: Die haben die Refugee-Politik in dieser Stadt quasi im Handstreich erobert und durchgesetzt, dass, wenn ein Flüchtlingsheim gebaut wird, im Umkreis von so und so viel Kilometern kein weiteres gebaut werden darf. Das ist heute ein Riesenproblem für die Hamburger Politik.
„DIESES ‚WIR‘ WAR VIELLEICHT DOCH EIN BISSCHEN ZU LEICHTFERTIG DAHINGESAGT. DENN WIR HABEN RELATIV SCHNELL FESTGESTELLT, DASS DIES DANN DOCH EIN SEHR DEUTSCHES UND WEISSES ‚WIR‘ WAR.“
Niels Boeing: Olaf Scholz ist dieser unsäglichen Initiative als Bürgermeister damals sehr entgegengekommen. Wenn man das weiß, kann man sich über seine heutige Abschiebepolitik eigentlich nicht wundern.
Christoph Twickel: Also es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich sage, den Text könnte ich jetzt guten Gewissens nicht mehr so schreiben: Es ist das „wir“, dass da gesprochen hat. Dieses „wir“ war vielleicht doch ein bisschen zu leichtfertig dahingesagt. Denn wir haben relativ schnell festgestellt, dass dies dann doch ein sehr deutsches und weißes „wir“ war. Das wurde mit der Ankunft der Lampedusa-Refugees 2013 klar, um die herum sich eine große Solidaritätsbewegung gebildet hat. Da wurde klar: Wir müssen gucken, dass wir auch diese Leute mit in die Forderung nach dem Recht auf Stadt reinholen, auch wenn sie erst mal nicht in diesem politischen Diskurs drin waren.
Niels Boeing: Wir haben das damals mit Lefebvre mit der Forderung nach einem „Recht auf Zentralität“ versucht: das Recht, an der ganzen Stadt teilzuhaben und nicht an den Stadträndern festgesetzt und weggesperrt zu werden.
Christoph Twickel: Es gab ja die Initiative „Recht auf Stadt kennt keine Grenzen“ und wir haben im Sommer 2016 mit dem Schwabinggrad Ballett & Arrivati die „Beyond Welcome“-Demonstration organisiert. Aber in diesen Zusammenschlüssen, so zumindest meine Erfahrung, stand für die Geflüchteten weniger das „Recht auf Stadt“ im Zentrum, sondern das Aufenthaltsrecht. Dass wir alle mittelständische Wohlstandskinder waren, würde ich aber so auch nicht verallgemeinern. Es gibt genug Leute, die aus anderen sozialen Hintergründen kommen. Aber das linke, akademische, weiße Milieu hat schon dominiert. Jedenfalls war die Idee vom Recht auf Stadt immer auch, zu schauen, dass man eine Transversale von Kämpfen organisiert, in der sich Leute aus unterschiedlichsten Positionen anschließen können.
Niels Boeing: Das hat beim Thema Flucht und Freedom of Movement zeitweise ganz gut geklappt. Bei Städt und Ökologie oder Umwelt hingegen nicht. 2015 gab einen heftigen Streit im Netzwerk Recht auf Stadt, wie beides zusammengehen könnte, Stadtpolitik und ökologische Politik.
„DIE GEFAHR BESTEHT NATÜRLICH, DASS SICH UNTER DEM SLOGN ‚RECHT AUF STADT‘ AUCH NIMBYS VERSAMMELN, ALSO LEUTE, DIE SAGEN: NOT IN MY BACKYARD.“
Christoph Twickel: War das so?
Niels Boeing: Ja, es gab manchmal Argumente, dass mehr Stadtbegrünung die Aufwertung von Quartieren befeuere. Wenn das und das schön begrünt wird, dann steigen die Mieten, sagten die einen. Begrünung sei damit ein Verdrängungsinstrument. Was ich angesichts der globalen Klima- und Ressourcenkrise schwierig finde, um es vorsichtig formulieren.
Christoph Twickel: Die Gefahr besteht natürlich, dass sich unter dem Slogan „Recht auf Stadt“ auch Nimbys versammeln, also Leute, die sagen: Not in my backyard. Ich berichte als Journalist immer über diesen Konflikt: Nachbar:innen, die sich gegen Verdichtung wehren, weil sie ihren grünen Hinterhof oder die Wiese vor der Haustür nicht verlieren wollen. Und dann wird auch mal die Refugee-Unterkunft oder ein Wohnungsbauprojekt bekämpft. Am Anfang hatten bei Recht auf Stadt eher diejenigen die Hegemonie, die – um mit Christoph Schäfers Buchtitel zu sprechen – gesagt haben: „Die Stadt ist unsere Fabrik“. Also: Wir wollen gerade nicht das dörfliche Idyll – Stadt ist Verdichtung! Ehrlicherweise muss man sagen: Auch Stadtplaner:innen in den Behörden nehmen diese Gegenposition zu den Nimbys gerne ein – nämlich, dass Stadt Verdichtung bedeutet und dass der urban sprawl viel mehr Naturzerstörung bedeutet. So bitter die Erkenntnis auch ist: Aktivismus ist nicht in jedem Fall progressiv-emanzipatorisch. „The right to the city is an empty signifier“, wie David Harvey sagt.
Niels Boeing Wir haben den – für mich scheinbaren – Gegensatz nicht auflösen können. Was sich 2019, als die neue Klimabewegung auf die Straßen ging, gerächt hat, finde ich: Die Recht-auf-Stadt-Bewegung konnte dazu nichts beitragen und stand einfach daneben. Andererseits, wo du Christoph Schäfer erwähnt hast: Ich fand seinen Ansatz von der „Verräumlichung der Konflikte“ in den Anfangsjahren strategisch schon sehr gut. Der Protest wurde wieder konkret, und man konnte die Zumutungen des Neoliberalismus sehr gut an konkreten Orten durchdeklinieren und erklären. Das war das Gegenteil vom Movement for Globale Justice zehn Jahre vorher und auch von Fridays for Future zehn Jahre später. Beide mussten sehr abstrakt und global bleiben – aber du kannst die Globalisierung und den Klimawandel als Probleme nicht frontal angehen. Vielleicht war das auch eine Wellenbewegung, und in fünf Jahren gibt es wieder eine neue Bewegung, die die Verhältnisse an konkreten lokalen Gegebenheiten angreift. Ich finde das jedenfalls interessant, dass seit Ende der 1990er das Pendel von ganz global zu superlokal schwingt und wieder zurück.
„ICH FAND DEN URBAN CITIZENSHIP-ANSATZ RICHTIG. ALLE, DIE HIER SIND, SIND BÜRGER:INNEN DIESER STADT!“
Christoph Twickel Ich glaube aber, es wäre naiv zu sagen, ich ziehe mir jetzt den Baumbestand vor meiner Haustür hoch. Es geht eben um das Weltklima. Auf der anderen Seite fand ich an den stadtökologischen Positionen schon auch interessant, dass da Leute Fragen gestellt und Behauptungen hinterfragt haben: Okay, was ist denn jetzt, wo wird das wieder aufgeforstet haben, wo sind denn jetzt die Ausgleichsflächen für diese und jene Bebauung? Was macht ihr in der Politik denn wirklich? An all die ökologischen Skandale dieser Stadt, die Elbvertiefung zum Beispiel, sind wir als Recht-auf-Stadt-Bewegung auch nicht rangekommen.
Niels Boeing Ja, wir haben das Koordinatensystem der Konflikte nicht aufgespannt, wie ich es nennen würde, und die Konflikte nicht ausreichend aufeinander bezogen. Wir sind bei drei, vier Themen hängen geblieben. Um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: 2009 waren zwei Dinge noch komplett anders. Zum einen war das Klimathema damals überhaupt nicht so präsent, wie heute. Es gab zwar dann und wann ein neues Klimagutachten, aber es hat die Leute nicht beschäftigt – der Klimawandel wurde immer noch in der Zukunft verortet. Das andere war: Es gab keine harte Konkurrenz von rechts auf der Straße, Pegida kam erst fünf Jahre später. Da haben sich die Verhältnisse dann aber umgekehrt. Und als dann noch die Identitären mit ihren von linken Bewegungen abgeschauten Aktionsformen kamen, konnte man durchaus den Überblick verlieren: Wer ist denn jetzt der Absender?
Christoph Twickel Ich fand den Urban Citizenship-Ansatz richtig, den du mit vielen aus dem Netzwerk Ende der Zehner Jahre versucht hast zu propagieren. Also – so wie der Bürgermeister von Palermo – zu sagen: Ich kenne keine Aus- und Inländer. Alle, die hier sind, sind Bürger:innen dieser Stadt! So, finde ich, müsste sich eine urbane Linke aufstellen sein, die eine attraktive und anschlussfähige Gegenposition zu dem Anti-Migrations-Mainstream entwickelt, der derzeit herrscht. Weil: Es bringt offenbar nichts, immer nur mit der Gefahr von rechts zu mobilisieren. Ich glaube, man muss skandalisieren, wie moralisch und praktisch unhaltbar es ist, eine Abschiebungsrepublik werden zu wollen, die Flucht grundsätzlich kriminalisiert. Und was das mit Menschen macht, die auch Teil unsere Städte sind. Vielleicht kommt dann wieder Bewegung in die Stadt.
Autoren
Niels Boeing und Christoph Twickel sind Journalisten, Buchautoren und Aktivisten. Sie leben in Hamburg.
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Manifest Not In Our Name, Marke Hamburg!
Titelbild
Hamburger Gängeviertel, Oktober 2009 | Foto: TH. Korr, Wikimedia Commons