Wohnraum gegen Obdachlosigkeit

Der Housing-First-Ansatz als Erfolgsmodell

Julia von Lindern

Die Zahl der wohnungslosen und der obdachlosen Menschen in Deutschland steigt stetig. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) lebten im Jahr 2022 rund 678.000 Menschen in Deutschland ohne eigene Wohnung, davon waren rund 41.000 Menschen tatsächlich obdachlos und lebten auf der Straße. Diese Zahlen verdeutlichen die Dramatik der Lage. Die Unterscheidung zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist von besonderer Bedeutung, wie dieser Beitrag herausstellen wird.

Obdachlosigkeit ist die stärkste Form von Armut. Sie hat – entgegen der oftmals vorherrschenden Annahme – strukturelle Ursachen. Es ist nicht das persönliche Versagen oder Scheitern, warum Menschen auf der Straße landen – die Hauptursache für Obdachlosigkeit sind Mietschulden, weil Menschen sich die horrenden Mietpreise einfach nicht mehr leisten können. Ist man einmal in die Abwärtsspirale hineingeraten, ist es tatsächlich sehr schwer, den Teufelskreis zu durchbrechen. Zudem verschärft der riesige Mangel an bezahlbarem Wohnraum die Situation wohnungsloser und obdachloser Menschen, da sie kaum Chancen haben, aus der Situation herauszukommen. Die Hochschule Düsseldorf hat unlängst die Studie zur „Diskriminierung am Wohnungsmarkt“ in Deutschland veröffentlicht. Darin wird deutlich, dass wohnungs- und obdachlose Menschen aufgrund der extremen Konkurrenzsituation am Wohnungsmarkt faktisch kaum eine Möglichkeit haben, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt anzumieten. Negative Schufaeinträge, eine Post- statt einer Meldeadresse oder der Hinweis „Ohne festen Wohnsitz“ im Personalausweis führen dazu, dass Vermietende vielfach gar nicht auf Anfragen antworten.

Immer mehr Menschen leben in sogenannten Obdächern oder Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, weil sie ihre Wohnungen verloren haben. Durchschnittlich 10 Prozent der Menschen nutzen keine Einrichtungen, sondern übernachten auf der Straße, in Abbruchhäusern, Parks o.ä. Viele obdachlose Menschen meiden Notschlafstellen, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Mehrbettzimmer, Diebstähle und Gewalt sind dort oftmals leider an der Tagesordnung. Eine Weitervermittlung an andere Hilfsstellen erfolgt jedoch zumeist über eben genau diese Notversorgungshäuser; man spricht von verschiedenen Hilfestufen, die durchlaufen werden müssen, bis – im Idealfall – die eigene Wohnung am Ende der Hilfekette steht.

Housing First: ein innovativer Ansatz zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit

Ein innovativer Ansatz, Menschen aus der Obdachlosigkeit herauszuhelfen, ist das Housing-First-Modell, das in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das Konzept von Housing First, das ursprünglich in den 1990er Jahren in den USA entwickelt wurde, richtet sich explizit an obdachlose, drogengebrauchende und/oder psychisch kranke Menschen – also eine Personengruppe, die auf dem freien Wohnungsmarkt faktisch ausgeschlossen ist und die in der Wohnungslosenhilfe leider manchmal immer noch als „Systemsprenger“ diffamiert wird. 

„Housing First stellt die Wohnung an den Anfang der Hilfe.“

Housing First stellt also die Wohnung an den Anfang der Hilfe – mit eigenem Mietvertrag und allen Rechten und Pflichten, die damit einhergehen. Die Wohnung ist der Ausgangspunkt, um wieder Stabilität zu erlangen und von vorne anzufangen. Wohnbegleitende Hilfen werden auf freiwilliger Basis und so lange, wie von den Personen gewünscht, angeboten. Abstinenzbedingungen, die Bedingung der Therapiebereitschaft oder ähnliche Vorbedingungen gibt es explizit nicht. Im Gegensatz zu herkömmlichen Modellen der Obdachlosenhilfe, bei denen häufig eine „Treppenhauslogik“ verfolgt wird – das heißt, Betroffene müssen erst mehrere Stufen von Hilfsangeboten durchlaufen, bevor sie eine eigene Wohnung bekommen –, stellt Housing First das Grundrecht auf Wohnen in den Fokus.

Der Erfolg von Housing-First-Modellen hat international gezeigt, dass dieser Ansatz nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen erheblich verbessert, sondern auch kostengünstiger ist als herkömmliche Notunterkünfte und Unterbringungsprogramme. Alle Housing-First-Angebote, die wissenschaftlich begleitet wurden, weisen eine Wohnstabilität von 90 Prozent und mehr aus – und das bei einer Zielgruppe, von der viele Menschen denken, dass sie das niemals schaffen könnte.

Bundesverband Housing First: die Verbreitung des Modells in Deutschland

In Deutschland wurde der Ansatz erstmals 2015 in Düsseldorf erprobt. Seither sind in vielen Städten zunächst Modellprojekte entstanden, die lediglich über eine bestimmte Dauer gefördert wurden/werden.

Im Jahr 2020 wurde der Bundesverband Housing First Deutschland gegründet, um die Verbreitung des Modells bundesweit zu fördern und zu koordinieren. Der Verband setzt sich dafür ein, dass Housing First als anerkannte und wirksame Strategie zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit etabliert wird. Er fördert den Austausch von Best Practices, unterstützt Kommunen und Wohlfahrtsorganisationen bei der Implementierung von Housing-First-Projekten und macht auf die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Wohnungslosenhilfe aufmerksam.

Ziel des Bundesverbands ist es, in ganz Deutschland Housing-First-Projekte zu initiieren und dadurch die Obdachlosigkeit nachhaltig zu überwinden. Der Verband arbeitet eng mit politischen Entscheidungsträgern, Sozialverbänden und der Zivilgesellschaft zusammen, um das Modell in Deutschland weiterzuverbreiten. Dabei geht es nicht nur darum, die betroffenen Menschen schnell und unbürokratisch mit Wohnraum zu versorgen, sondern auch darum, langfristige politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Erfolg von Housing First gewährleisten.

Der Bundesverband setzt sich auch für die Evaluation der bestehenden Projekte ein, um die Wirksamkeit des Modells in verschiedenen deutschen Städten zu analysieren und weiter zu verbessern. Dabei spielen insbesondere die Finanzierung und die Bereitstellung von Wohnraum eine zentrale Rolle, denn ohne ausreichende finanzielle Mittel und verfügbare Wohnungen kann Housing First nicht funktionieren.

Housing First bei fiftyfifty in Düsseldorf: ein Erfolgsmodell

Eines der erfolgreichsten Housing-First-Projekte in Deutschland wird nach wie vor vom „Housing-First-Pionier“ fiftyfifty in Düsseldorf betrieben. Fiftyfifty, das ursprünglich als Straßenmagazin ins Leben gerufen wurde, engagiert sich seit Jahren für obdachlose Menschen und hat sich mit Housing First ein weiteres Standbein aufgebaut, das Betroffenen hilft, die Obdachlosigkeit zu überwinden. 

„So konnten – trotz Pandemiebeginn! – knapp 100 Wohnungen in NRW für obdachlose Menschen zur Verfügung gestellt werden.“

Das von fiftyfifty etablierte Housing-First-Modell funktioniert im Wesentlichen über den Ankauf von Wohnungen: Die Hilfsorganisation betreibt eine Kunstgalerie, die hochwertige Kunstwerke verkauft, deren Erlös in ihre sozialen Projekte fließt. Durch den Verkauf von Benefizkunst konnten bereits über 60 Wohnungen für Housing First angeschafft werden, die an ehemals obdachlose Menschen vermietet werden. Der Erfolg dieses Projektes erlangte bundesweite Aufmerksamkeit und andere Träger der Wohnungslosenhilfe wurden auf das Konzept aufmerksam. Sie wollten den Housing First Ansatz ebenfalls erproben, hatten allerdings (zunächst) keine Möglichkeit, Wohnungen anzumieten. So wurde die Idee des Housing-First-Fonds geboren, der von 2017 bis 2020 vom Sozialministerium NRW gefördert worden ist. Die Idee: Der Künstler Gerhard Richter unterstützt durch eine Bildspende im Wert von rund einer Million Euro den Ankauf von Wohnungen, die dann nach dem Housing-First-Ansatz vermietet werden.

So konnten – trotz Pandemiebeginn! – knapp 100 Wohnungen in NRW für obdachlose Menschen zur Verfügung gestellt werden. Die öffentliche Aufmerksamkeit trug maßgeblich zur Verbreitung des Ansatzes bei.

2021 wurde dann von fiftyfifty der Verein Housing First Düsseldorf gegründet, für den der Oberbürgermeister die Schirmherrschaft übernommen hat und der finanziell von der Stadt getragen wird. Housing First Düsseldorf und fiftyfifty arbeiten dabei eng mit privaten Vermieter:innen zusammen, um Wohnraum zur Verfügung zu stellen – denn durch den Ankauf von Wohnungen allein können die enormen Herausforderungen nicht gestemmt werden. Zudem ist die Überwindung von Obdachlosigkeit eine gesamtgesellschaftliche und politische Aufgabe, die nicht allein an private Organisationen abgegeben werden darf.

Dennoch: Das Projekt in Düsseldorf hat gezeigt, dass Housing First auch in Deutschland funktioniert. Viele der ehemals obdachlosen Menschen haben es geschafft, dauerhaft in ihrer Wohnung zu bleiben und ihr Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Besonders bemerkenswert ist, dass viele der Betroffenen, die zuvor als „schwierig“ galten oder von anderen Hilfsangeboten ausgeschlossen waren, durch Housing First wieder eine Perspektive bekommen haben.

Housing First hilft also – das wurde in den letzten Jahren auch vielfach wissenschaftlich belegt. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 in Deutschland zu überwinden. Und tatsächlich: Obdach- und Wohnungslosigkeit sind keine Naturphänomene, und eines der reichsten Länder der Erde kann dieses Ziel erreichen – wenn der politische Wille da ist. Es liegt in unserer aller Hände – packen wir es an.


Autorin

Julia von Lindern ist Sozialpädagogin und hat 2015 Housing First in Düsseldorf mit etabliert. Sie ist Geschäftsführerin und Mitbegründerin des Bundesverbands Housing First.


Fotos

Bewohner:innen von Housing-First-Wohnungen | Fotos: © Katharina Mayer


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