Eine Analyse der Diskurskoalitionen hinter der scheiternden Umsetzung des Volksentscheids »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«
Ole Steen
Drei Jahre nach dem erfolgreichen Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« (DWE) im September 2021 arbeitet die gleichnamige Initiative an einem neuen Volksentscheid. Die Hoffnung war groß, fast 60 Prozent der Berliner Wähler:innen hatten nach einer mehrjährigen Kampagne für die Vergesellschaftung der Bestände großer Wohnungsunternehmen in Berlin gestimmt. Doch die rot-rot-grüne Regierung unter Bürgermeisterin Franziska Giffey hat keine Eile, die Forderungen umzusetzen. Stattdessen wird zunächst eine sogenannte Expertenkommission eingerichtet, um über die Rechtmäßigkeit des Vorhabens zu beraten. Dazu kommt, dass nach den Neuwahlen aufgrund von Irregularitäten bei der Wahl mittlerweile die CDU mit Kai Wegner den Bürgermeister Berlins stellt und seine Partei entschiedener Gegner der Vergesellschaftungen ist.
Das Problem: Der Volksentscheid war lediglich ein Beschlussvolksentscheid, welcher keine direkte Gesetzeswirkung hat, sondern nur der Regierungskoalition einen Auftrag zur Umsetzung gibt. Aktuell arbeitet DWE deshalb an einem Gesetzesvolksentscheid, welcher einen konkreten Gesetzesentwurf beinhaltet, der bei einem erfolgreichen Votum umgesetzt werden müsste. Dieser Beitrag setzt sich damit auseinander, wie es so weit kommen konnte, dass ein zweiter Volksentscheid überhaupt nötig wird. Sind der Vergesellschaftung abgeneigte Akteur:innen dominanter im öffentlichen Diskurs? Sind neoliberale Logiken in den staatlichen Institutionen verhaftet und arbeiten einer Umsetzung der Vergesellschaftung entgegen? Als theoretische Grundlage dient dabei die materialistische Staatstheorie, welche es ermöglicht, die Wirkung gesellschaftlicher Kräfte auf staatliche Strukturen und Handeln zu untersuchen. So werden staatliche Strukturen und Institutionen nach historisch dominanten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen geformt. Sie reagieren nur träge auf Veränderungen und Forderungen nach einem substanziellen Wandel, wie hier in der Wohnungspolitik.
Diskurs-Netzwerk-Analyse
Im Rahmen einer Diskurs-Netzwerk-Analyse habe ich die Berichterstattung verschiedener Berliner Zeitungen über DWE im Zeitraum zwischen dem positiven Volksentscheid und den Neuwahlen im Februar 2023 darauf untersucht, welche Akteur:innen wie oft zu Wort kommen, welche Lösungen für das Wohnangebot sie fordern oder ablehnen und welche Verknüpfungen es dabei zwischen den verschiedenen Parteien, Bewegungen und der Wohnungswirtschaft gibt. Die untersuchten Artikel stammen dabei aus dem Tagesspiegel, der Berliner Zeitung, der Taz sowie der Welt, um verschiedene regionale oder überregionale Ausrichtungen sowie eher linke oder konservative Blattlinien abzudecken. Ich habe nach allen Beiträgen dieser Zeitungen im Zeitraum zwischen dem Volksentscheid und den Berliner Neuwahlen gefiltert, in denen das Schlagwort »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« genannt wurde. Aus diesem Korpus habe ich eine Zufallsstichprobe aus fast 100 Zeitungsartikeln gezogen. Am häufigsten kamen hier Vertreter:innen der drei damaligen Berliner Regierungsparteien SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« und dem Berliner Mieterverein zu Wort. Die Oppositionsparteien CDU, FDP und AfD, welche alle den Volksentscheid entschieden ablehnten, sowie Akteur:innen der Wohnungswirtschaft hatten eine geringere mediale Präsenz.
Durch die Netzwerkanalyse soll die Konstellation der widerstreitenden Interessen im öffentlichen Diskurs herausgearbeitet werden. Grundlage für diesen Forschungsansatz ist die Annahme, dass die öffentliche Politikgestaltung nicht nur von Parteien, sondern auch von weiteren sozialen oder politischen Akteuren wie wirtschaftlichen oder sozialen Interessensgruppen beeinflusst wird. Zur Analyse der Daten wurden die frei verfügbaren Programme „Discourse Network Analyzer“ für die Kodierung der Artikel sowie „visone“ zur visuellen Auswertung genutzt.
Aus der Grafik lässt sich ablesen, wer ähnliche Interessen im Zeitungsdiskurs hervorbringt. Je mehr ähnliche Aussagen desto kräftiger ist die Verbindungslinie und geringer ist die Distanz zwischen den Akteuren. Zusätzlich sind die vom Algorithmus errechneten Cluster sichtbar, welche die verschiedenen Interessensgruppen im Diskurs um die Vergesellschaftung aufzeigen.
Uneinige Regierungskoalition
Zur Umsetzung der Vergesellschaftung hatten die Politiker:innen der Regierungsparteien grundlegend verschiedene Meinungen. Lediglich Die Linke stellte sich dabei eindeutig auf die Seite von DWE. Die Äußerungen von Seiten der Grünen waren zwar zumeist DWE gegenüber positiv gestimmt, Spitzenkandidatin Bettina Jarasch schränkte dies während der Koalitionsverhandlungen aber ein. Sie sprach sich dafür aus, dass der Volksentscheid vor allem genutzt werden soll, um freiwillige Zugeständnisse zu einem Mietenschutzschirm von den Vermietern zu bekommen. Linke und Grüne sind zusammen mit DWE und dem Berliner Mieterverein die präsentesten Akteure der diskursiven Koalition pro-Vergesellschaftungen.
Die Berliner SPD ist dagegen in einer Gruppe mit den Oppositionsparteien CDU und FDP sowie der Wohnungswirtschaft, repräsentiert durch »BBU« und »Haus & Grund«, einzuordnen. Diese Zuordnung entsteht vor allem durch die gemeinsame Ablehnung von Vergesellschaftungen. Insgesamt stärker in der Stichprobe vertreten waren aber die Akteure, die eine Vergesellschaftung unterstützen. Das entspricht auch dem positiven Ergebnis des Volksentscheids selbst. Damit lässt sich die erste zu Beginn gestellte Frage bereits beantworten: die der Vergesellschaftung abgeneigten Akteur:innen sind nicht dominanter im untersuchten medialen Diskurs, ganz im Gegenteil.
SPD bevorzugt Wohnungsbündnis und Expertenkommission
Da mit Grünen und Linken zwei der drei damaligen Regierungsparteien grundsätzlich offen für das Anliegen der Initiative DWE waren, ist als entscheidender Faktor gegen die Umsetzung des Volksentscheids die SPD zu identifizieren. Insbesondere die Berliner Parteispitze fällt hierbei auf. Für Franziska Giffey, Vorsitzende der Berliner SPD, würden Vergesellschaftungen etwa „rote Linien“ überschreiten. Auch anderes SPD-Spitzenpersonal, wie der damalige Bausenator Andreas Geisel und seine Staatssekretärin Ülker Radziwill, forderte in der Presse eher alternative Wege, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Die Verzögerung der Umsetzung erfolgte auf zwei Wegen. Zum einen setzte die Berliner Regierung auf Drängen der SPD eine Expertenkommission ein, welche in einem langwierigen Verfahren noch einmal die Rechtmäßigkeit des Vorhabens prüfen sollte. Zum anderen trieb insbesondere Giffey die Gründung des »Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbare Mieten« zwischen Senat und privaten und landeseigenen Wohnungsunternehmen voran, welches aber nur begrenzt erfolgreich war.
Auffällig ist, dass Vertreter:innen aus der SPD-Basis zwar seltener in den Zeitungsartikeln zu Wort kamen, aber meist offener gegenüber dem Volksentscheid eingestellt waren als die Abgeordneten der Partei. Entsprechend stimmte auch der SPD-Landesparteitag 2022 für die schnellstmögliche Erarbeitung eines Vergesellschaftungsgesetzes, sobald die Expertenkommission die Rechtssicherheit bestätigt.
Die Institutionalisierung neoliberaler Wohnungspolitik
Die Wohnungspolitik der SPD besteht insgesamt aus einer mäßig effektiven freiwilligen Selbstkontrolle der Wohnungsunternehmen anstatt aus festen Vorschriften für diese. Hier kommen wir zur Frage nach der Verhaftung neoliberaler Logiken in staatlichen Strukturen. Denn selbst, wenn die öffentliche Meinung mittlerweile bereit für neue Ideen wie eine Vergesellschaftung der Wohnungsunternehmen ist, so sind Akteur:innen in politisch zentralen Rollen noch beeinflusst von Jahrzehnten neoliberaler Wohnungspolitik. Dies zeigt sich auch durch die Analyse der lokalen Berichterstattung. Denn die Berliner SPD-Politiker:innen weisen hier eine größere Nähe zu Akteuren der Wohnungswirtschaft als zu ihrer eigenen Basis auf. Eine grundlegende Änderung der Besitzverhältnisse und der Verwaltung von Wohnraum ist hier nicht vorgesehen.
Linke und Grüne waren im Diskurs dem Volksentscheid offener gegenüber eingestellt. Aber eine Veränderung in diesen staatlichen Strukturen zu schaffen ist schwer, wenn selbst bei einer Rot-Rot-Grün Regierung teilweise die Interessen der Immobilienkonzerne vertreten werden. Durch diese neoliberale Prägung wird der Handlungsrahmen der Wohnungspolitik begrenzt, und es braucht äußere Einflüsse wie den Volksentscheid DWE, um Veränderung anzustoßen.
Die Initiative DWE hat ursprünglich bewusst den Weg eines Beschlussvolksentscheides für ihr Anliegen gewählt. Ein Gesetzesvolksentscheid wäre leichter angreifbar gewesen, da für diesen ein rechtssicherer Gesetzesentwurf vorliegen muss. Doch um die Blockadehaltung des Senats zu umgehen ist es nur folgerichtig, dass die Initiative jetzt den Weg des Gesetzesvolksentscheides geht. Mit einer erneuten erfolgreichen Kampagne hätte sie so die Möglichkeit, die festgefahrenen Strukturen des Senats zu umgehen und einen grundlegenden Wandel der Wohnungspolitik in Berlin und als Blaupause auch für anderswo einzuleiten.
Autor
Ole Steen ist Masterstudent der Geographie an der Universität Bonn und hat für seine Bachelorarbeit an der Universität Münster zu »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« geforscht.
Titelbild
Rainer Midlaszewski unter Verwendung eines Fotos von Jana Legler/DWE