Feuer im Herzen

Das Vermächtnis des amerikanischen Stadtsoziologen Mike Davis (1946–2022)

Theo Bruns und Rainer Wendling

Am 26. Oktober 2022 erreichte uns die traurige Nachricht, dass Mike Davis einen Tag zuvor in San Diego gestorben war. Wir verlieren mit ihm einen herausragenden Schriftsteller, der sich durch seine Studien zur Stadtentwicklung und zur politischen Ökonomie des Hungers ausgezeichnet hat. In seinen Schriften verknüpft Davis die analytische Schärfe einer marxistisch geschulten politischen Ökonomie mit klassenkämpferischer Leidenschaft, ohne sich jemals einer Orthodoxie zu unterwerfen.

Mike Davis wurde am 10. März 1946 in Fontana, einem Vorort von Los Angeles, geboren. Schon in jungen Jahren trug er als Arbeiter in einer Fleischfabrik zum Unterhalt der Familie bei. Später pendelte er zwischen verschiedenen Jobs, Gewerkschaftsaktivitäten und dem Studium an Universitäten in Kalifornien, England und Nordirland hin und her. Er war Mitglied der »Students for a Democratic Society«, trat der Kommunistischen Partei bei und leitete deren Buchladen in Los Angeles, bis er 1969 gefeuert wurde, weil er den sowjetischen Kulturattaché des Ladens verwiesen hatte. Von 1980 bis 1986 arbeitete Davis im Londoner Büro der Zeitschrift »New Left Review«. In dieser Zeit veröffentlichte er sein erstes Buch „Prisoners of the American Dream“ (Dt.: „Phönix im Sturzflug“, Rotbuch, 1986) über die Geschichte der amerikanischen Arbeiterklasse und die politische Ökonomie der Vereinigten Staaten in der Reagan-Ära.

International bekannt wurde Mike Davis 1990 mit seinem Kultbuch „City of Quartz“, einer faszinierenden Sozialgeschichte von Los Angeles.

International bekannt wurde Mike Davis 1990 mit seinem Kultbuch „City of Quartz“, einer faszinierenden Sozialgeschichte von Los Angeles. In diesem Klassiker der Stadtentwicklungssoziologie analysiert Davis die Innovationsstrategien der „Developers“, die das Stadtbild im Interesse maximaler Gewinnerzielung umpflügen. Sein besonderes Augenmerk gilt der Privatisierung des öffentlichen Raums, die mit Überwachung, Festungsarchitektur und einer allgegenwärtigen Sicherheitsparanoia einhergeht. Die sozioökonomisch fundierte ethnische Segregation der Stadt brandmarkt Davis als „räumliche Apartheid“. Er schreibt über die Bewegung der Eigenheimbesitzer, die sich als „Sowjets“ gegen die Spekulanten formieren und zugleich einer beschränkten „Not in my backyard“-Mentalität frönen. Er empört sich über ein eiskaltes, rassistisches, brutales (und dafür straffrei bleibendes) Polizeidepartment, das einen veritablen Krieg gegen die Schwarze und Chicanx-Jugend führt. 1992 – kurz nach Erscheinen des Buches – provoziert es die sogenannten „Rodney-King-Riots“. Er schaut aber auch auf Crackökonomie und Gangauseinandersetzungen, in denen sich die Armutsbevölkerung nur zu oft entlang ethnischer und mikrogeografischer Quartiersgrenzen selbst bekämpft, und die „Grande Peur“ der Mittelschicht, die sich immer weiter nach rechts radikalisiert.

Mike Davis geht diesen Konfliktlinien mit wachem Blick auf die ihnen zugrunde liegenden Klassenverhältnisse akribisch nach. In „Ökologie der Angst“ widmet er sich den realen Katastrophen und ihren fiktiven Zerrbildern in den Filmen Hollywoods und den Albträumen der Upper Class, die sich in eine Zitadellen-Architektur einmauert.

Mit „Planet der Slums“ dehnt Davis seine urbanistischen Studien auf den globalen Süden aus und konstatiert in der weltweiten Verstädterung eine „kopernikanische Wende“ der menschlichen Siedlungsgeschichte. Die Megaslums des globalen Südens sind für ihn dabei Ausdruck einer in höchstem Maße ungleichen und instabilen urbanen Welt. Hier treffen die sozialen Fronten der Globalisierung in radikaler Weise aufeinander.

Neben seinen Werken, die sich der Stadtgeschichte widmen, hat Mike Davis mit seinem Buch über „Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter“ eine Studie über die „Geburt der Dritten Welt“ verfasst, die einen fundamentalen Perspektivwechsel im Hinblick auf die Geschichte der sogenannten Unterentwicklung einleitete. Und sein 2005 publiziertes Buch „The Monster at Our Door“ über die Vogelgrippe erwies sich angesichts von Covid-19 nachträglich als eine Untersuchung von bestürzender Hellsichtigkeit über die gesellschaftliche Produktion von Pandemien.

Mike Davis lebte zuletzt zusammen mit seiner Frau, der mexikanischen Künstlerin Alessandra Moctezuma, in San Diego. Mitte des Jahres wurde bekannt, dass er sich entschieden hatte, eine Krebserkrankung nicht länger behandeln zu lassen. Im britischen »Guardian« formulierte er sein Vermächtnis an die Nachkommenden: „Ich war immer beeindruckt von den Gedichten, die Brecht in den späten 1930er-Jahren geschrieben hat, während des Zweiten Weltkriegs. Nachdem alles zu Asche verbrannt war, all die Träume und Werte einer ganzen Generation zerstört waren, sagte Brecht: ,Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten …‘ Wie widerstehen Menschen in finsteren Zeiten? Was uns letztlich weitermachen lässt, ist unsere Liebe zueinander und unsere Weigerung, den Kopf zu beugen und das Schicksal zu akzeptieren, wie allmächtig es auch erscheinen mag. Das ist es, was normale Menschen tun müssen. Wir müssen einander in Liebe zugewandt sein. Wir müssen einander beschützen. Wir müssen kämpfen.“

Wie Walter Benjamin nahm Mike Davis die sozialen Katastrophen des kapitalistischen Weltzeitalters in den Blick, um nach einem Ausweg aus dem Kontinuum der Herrschaft zu suchen.


Autoren

Theo Bruns (Hamburg) und Rainer Wendling (Berlin) sind die Verleger der meisten der ins Deutsche übersetzten Bücher von Mike Davis. Beide sind in verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv, u.a. für ein Recht auf Stadt und internationale Klimagerechtigkeit.


Weiterlesen

Davis, Mike (1994): City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin: Schwarze Risse, Neuauflage Februar 2023 (Assoziation A)

Davis, Mike (1999): Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe, München: Kunstmann

Davis, Mike (2004): Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin/Hamburg: Assoziation A

Davis, Mike (2007): Planet der Slums, Berlin/Hamburg: Assoziation A


Titelbild

Mike Davis (2017) | Foto: wikimedia.org


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