„Wir sollten gemeinsam so weit gehen, wie wir können“

In Brüssel steigen die Mieten, gleichzeitig ist die Armutsquote hoch. Menschen ohne Papiere leben unter extrem schlechten Bedingungen. Dagegen formiert sich Widerstand und neue Bündnisse werden geschlossen. Die Geografin Sarah engagiert sich seit über zehn Jahren in der stadt- und mietenpolitischen Bewegung in Brüssel. Sie ist aktiv bei »Action Logement Bruxelles« (Aktionsbündnis Wohnen Brüssel), der »Front Anti-Expulsions« (Front gegen Zwangsräumungen) und organisiert mit einem breiten Bündnis den jährlichen »Housing Action Day« in Brüssel. Im Interview berichtet sie über die Situation in Brüssel und den Stand der Bewegung.

Interview: Felix Lackus (Oktober 2022)

Brüssel ist aktuell mit einer Krise der Wohnraumversorgung konfrontiert. Woran liegt das?

Ein großer Teil der Bevölkerung in Brüssel ist ziemlich arm und auch die Brüsseler Innenstadt wird zu großen Teilen von sehr armen Menschen bewohnt, was selten in europäischen Hauptstädten geworden ist. Wir erleben seit einiger Zeit einen sehr starken Anstieg der Kauf- und Mietpreise. In Brüssel mieten etwa 60 Prozent der Haushalte ihre Wohnung, jedoch gibt es in Belgien einen nur sehr schwachen Mieterschutz. Derzeit ist es eine wirklich schwierige Situation, denn wir haben diese seltsame Regelung, dass die Miete in laufenden Mietverträgen entsprechend der Inflationsrate erhöht werden kann. Die Inflationsrate in Belgien beträgt jedoch dieses Jahr zehn Prozent, bei den meisten meiner Freund:innen wurde die Miete dieses Jahr daher ebenfalls um zehn Prozent erhöht. Die Einkommen sind natürlich nicht gestiegen. Das trifft die Menschen wirklich hart.

In Brüssel sitzen die NATO und Teile der EU. Was bedeutet das für die Kauf- und Mietpreise in der Stadt?

Brüssel ist eine Stadt, in die viele Menschen einwandern. Vereinfacht gesagt, gibt es zwei Arten von Einwanderung: Es gibt die reichen Zuzügler:innen, die zum Beispiel für die NATO oder die Europäischen Institutionen arbeiten. Sie haben meist sehr gute Gehälter und können sich für Brüsseler Verhältnisse überdurchschnittliche Preise leisten. Außerdem ist Belgien ein Steuerparadies. Es gibt sehr viele reiche Leute, zum Beispiel aus Frankreich, die hier ihren Wohnsitz haben, weil es in Belgien keine Vermögenssteuer gibt.

Es gibt jedoch auch viele sehr arme Migrant:innen, die aus schwierigen oder gewaltförmigen Lebensverhältnissen kommen. Dies hat zu einer Verschärfung der Situation im niedrigpreisigen Wohnungsmarkt beigetragen. Viele migrantische Menschen sind von sehr schlechten Wohnbedingungen betroffen, besonders Menschen ohne Papiere, die dafür auch noch horrende Preise bezahlen.

Vor allem die Immobilienspekulationen haben die Kauf- und Mietpreise in die Höhe getrieben. Die Nachfrage ist stark gestiegen. Um die Jahrtausendwende lebten weniger als eine Million Menschen in Brüssel, mittlerweile sind es 1,3 Millionen. Zudem wird pro Person durchschnittlich mehr Wohnraum beansprucht. Durch Airbnb wird zusätzlich Druck auf die Preise ausgeüben.

Was macht ihr zur Zeit mit »Action Logement Bruxelles«?

Wir organisieren eine Petition für Mietsenkungen. Das ist wirklich wichtig, weil die Mieten für viele Menschen zu hoch sind und wir das Thema damit in die Öffentlichkeit bringen. Die Idee ist, über die Petition mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Dabei hilft uns auch der »Housing Action Day«, denn so können wir nicht nur über die Wohnungsprobleme sprechen, sondern auch gleich zu einer Aktion einladen und dazu motivieren gemeinsam etwas gegen die hohen Mieten zu unternehmen.

Die Initiative »Front Anti-Expulsion« kämpft gegen Zwangsräumungen von Einzelpersonen oder Haushalten.

Genau. Wir versuchen von der individuellen Betroffenheit zu einem kollektiven Handeln zu gelangen. Es gab bisher nur eine Person, die wollte, dass ihre Zwangsräumung blockiert wird. Alle anderen hatten bisher zu große Angst und wollten nicht, dass es zu einer Konfrontation mit der Polizei kommt. Man kann also wirklich spüren, dass die Mieter:innen Angst haben und sich zudem schuldig fühlen, weil sie die Miete nicht bezahlen können. Außer Blockaden machen wir noch viele weitere Aktionen. Zum Beispiel protestieren wir bei Vermieter:innen, um sie als Verantwortliche für die Räumungen öffentlich zu markieren. Wir haben auch eine Art Sprechstunde, zu der Leute kommen, um über eine bevorstehende Zwangsräumung zu sprechen. Wir überlegen dann gemeinsam, was wir tun können, welche Art von Aktion sich anbietet, wie viele Leute wir dafür brauchen und mit welcher anderen betroffenen Person sich der Fall vielleicht verbinden lässt.

„Aktuell unterstützen wir zum Beispiel viele Alleinerziehende oder Frauen in schwierigen Partnerschaften. Sie können oft ihre Männer nicht verlassen, weil sie sich allein keine Wohnung leisten können.“

Aktuell unterstützen wir zum Beispiel viele Alleinerziehende oder Frauen in schwierigen Partnerschaften. Sie können oft ihre Männer nicht verlassen, weil sie sich allein keine Wohnung leisten können. Dann fragen wir Betroffene, ob sie nicht zusammen etwas unternehmen wollen und zum Beispiel gemeinsam eine Wohnung suchen. Das hat bisher noch nicht geklappt, da die Frauen immer dringend eine Wohnung brauchen. Wir wollen diesen Ansatz jedoch weiterverfolgen und mit Methoden des Community Organizing verbinden.

Wie hat sich die stadt- und mietenpolitische Bewegung in Brüssel in den letzten Jahren entwickelt?

Ich würde sagen, dass unsere Bewegung immer größer wird. Das hat etwas sehr kraftvolles und ist ein guter Anfang. Wir sprechen heute in einer Weise über Wohnraum, die bis vor kurzem noch nicht möglich war. Immer mehr Menschen kommen und wollen etwas tun. Das Problem ist, dass wir noch nicht so gut organisiert sind. Aber ich bin wirklich sehr zuversichtlich, dass wir weiter an Stärke gewinnen werden. Die Sozialistische Partei hat vor kurzem ein Gesetz vorgeschlagen, das Mieterhöhungen auf jährlich maximal zwei Prozent begrenzen soll. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass die meisten Vermieter:innen ihre Häuser längst abbezahlt haben. Zudem gibt es in Belgien so gut wie keine Steuern auf Mieteinnahmen. Das war also ein wirklich guter Vorschlag der Sozialisten. Aber der Verband der Vermieter:innen kämpfte dagegen. Ich denke, es ging gar nicht um das Geld, sondern ums Prinzip.

Ihr bereitet euch bereits auf den Housing Action Day 2023 vor.

Wir planen einen gemeinsamen Protest in Brüssel. Aktuell versuchen wir auf nationaler Ebene gemeinsame Forderungen der stadt- und mietenpolitischen Bewegung aufzustellen, obwohl die Situation der Wohnungsmärkte in Flandern, Wallonien und Brüssel jeweils sehr unterschiedlich ist. Anders als in größeren Städten besitzen landesweit mehr als 70 Prozent der Bevölkerung eine eigene Wohnung. Gemeinsam haben wir drei Forderungen aufgestellt. Erstens: Die Preise sind zu hoch und müssen sinken, dabei ist zweitrangig ob Menschen es sich nicht leisten können zu mieten oder zu kaufen. Zweitens: Wir wollen keine Zwangsräumungen, nicht aus den Wohnungen und im übertragenen Sinne auch nicht aus Belgien. Daher verbinden wir dies mit der Forderung nach Legalisierung von Menschen ohne Papieren. Drittens: Wir wollen eine gemeinwohlorientierte Wohnraumversorgung außerhalb des Marktes stärken. Diese drei Forderungen funktionieren für alle Landeteile gleichermaßen.

Kannst du uns von einer Aktion auf einem der vergangenen Housing Action Days berichten?

Wir haben 2020 eine Demonstration organisiert, zu der viele Menschen mit Fahrrädern gekommen sind. Am Ende der Route wurde ein seit mehr als zehn Jahren leerstehendes Gebäude besetzt. Das Gebäude befindet sich im Besitz einer sehr reichen adligen Familie, die ihr Vermögen unter anderem im kolonialen Kongo gemacht hat. Also war es ein besonderes Anliegen, dieses Gebäude zu besetzen, um dort Menschen ohne Papiere unterzubringen, die oftmals aus Ländern aus Subsahara-Afrika kommen.

„Die Aktion war eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen der stadtpolitischen Bewegung und der Bewegung von Menschen ohne Papiere.“

Hunderte Menschen blockierten mit Fahrrädern die Straße und die Polizei konnte die Besetzung des Gebäudes nicht verhindern. Die Aktion war eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen der stadtpolitischen Bewegung und der Bewegung von Menschen ohne Papiere. Diese Verbindung ist absolut notwendig, da viele illegalisierte Menschen unter miserablen Wohnbedingungen leben.

Möchtest du der stadt- und mietenpolitischen Bewegung in Deutschland noch etwas mitgeben?

Ja! Ich sage immer zu meinen Freund:innen: Wir sollten gemeinsam so weit gehen, wie wir können. Der Volksentscheid zur Enteignung in Berlin war für uns sehr inspirierend und auch, dass in Berlin ein Mietendeckel eingeführt wurde, auch wenn dieser keinen Bestand hatte. Das hat uns wirklich viel Hoffnung und Kraft gegeben. Ich danke euch für all die Arbeit, die ihr geleistet habt.


Autor

Felix Lackus ist im Berliner Bündnis »Zwangsräumung Verhindern« und in der »European Action Coalition« aktiv.


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»Action Logement Bruxelles« (Aktionsbündnis Wohnen Brüssel)
»Front Anti-Expulsions« (Front gegen Zwangsräumungen)
„Housing Action Day“


Titelbild

Gewerkschaftsdemonstration gegen hohe Lebenshaltungskosten am 20. Juni 2022 in Brüssel mit mehr als 70.000 Teilnehmenden unter Beteiligung von »Action Logement Bruxelles«.


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