Aus der Bewegung ins Rathaus

Was bleibt nach vier Jahren Neuem Munizipalismus in Madrid?

In vielen spanischen Städten zogen 2015 munizipalistische Wahlbündnisse in die Rathäuser ein. In Madrid unter dem Slogan »Ahora Madrid!« (Madrid jetzt!). Dazu entstanden eine Konferenzreihe, ein munizipalistisches Manifest und andere Veröffentlichungen. Der Ansatz klingt verheißungsvoll: In einem inklusiven Prozess sollen sich soziale Bewegungen zusammen finden, um als Wahlbündnisse die Rathäuser zu stürmen. Dort soll eine progressive Politik neuen Stils umgesetzt werden. Die Institutionen der Stadt würden nicht nur genutzt, sondern transformiert. So breite sich der Neue Munizipalismus zu einem globalen Netzwerk der rebellischen Städte aus, das Kapitalismus und Rechtsruck die Stirn bietet. Mit den Kommunalwahlen 2019 ist dieser Plan vorerst gestoppt. In vielen Städten wurden die Rathäuser wieder verloren, meist an rechte Regierungen unter Beteiligung der neofaschistischen Partei Vox.

Der Munizipalismus ist stecken geblieben

„Was haben wir eigentlich erwartet?“, fragt sich Julia Acacias im September 2019. Sie ist bei der Plattform der Hypothekengeschädigten (PAH) im Zentrum Madrids aktiv. Die PAH hat sich nicht am Wahlbündnis beteiligt. Viele Aktive haben die Gruppe jedoch für das munizipalistische Experiment verlassen. Und natürlich hatte es Hoffnungen geweckt, dass in einer Stadt, die traditionell rechts wählt, plötzlich die eigenen Mitstreiter*innen regieren. Doch direkt nach der Wahl hätten die Probleme angefangen, erzählt Acacias. Die neue Bürgermeisterin Manuela Carmena hätte sogleich klar gemacht, dass sie kein Interesse am Einbinden von Initiativen hat. Von da an hätte sich die Kommunikation zwischen Rathaus und Bewegung zum Knackpunkt entwickelt. „Wer sagt, »Ahora Madrid« wäre eine Plattform der Bewegungen gewesen, lügt“, schreibt Gonzalo Maestro, ebenfalls bei der PAH aktiv, im Magazin El Salto.

Entstanden war das Bündnis aus der munizipalistischen Ganemos-Bewegung, der Partei Podemos sowie aktivistischen Strömungen und kleineren Parteien. Manuel Gabarre kam über das aktivistische Kollektiv »Traficantes de Sueños« zu »Ahora Madrid«. Dort arbeitete er als Schatzmeister. „Manuela Carmena war die Einbindung der Bewegungen egal“, sagt er. Auch Sonia Martínez, die zusammen mit Gabarre das Observatorio Metropolitano de Madrid betreibt, winkt ab. Sie hatte ein Jahr für einen der neuen Stadträte gearbeitet, bevor sie entnervt aufgab. „Erst wurde uns von den Mandatsträger*innen versprochen, wir könnten unsere aktivistischen Politikansätze in den Institutionen fortführen. Dort wurden dann aber ganz andere Dinge verlangt und wir sind in der Bürokratie verschwunden.“

Um die Entwicklung des munizipalistischen Projekts in Madrid zu verstehen, betont Gabarre, dürfe man den politischen Rahmen nicht vergessen. »Ahora Madrid« war von Anfang an heftigem Gegenwind der Rechten ausgesetzt. Manuela Carmena war das Feindbild der konservativen Presse, die in Spanien eng mit den Banken verwoben ist. Zudem sind die Handlungsspielräume für die Stadtregierung begrenzt. Madrid ist extrem verschuldet. Ein Bundesgesetz schreibt vor, dass Haushaltsüberschüsse zur Schuldentilgung verwendet werden müssen. Dazu machen es die Austeritätsgesetze möglich, dass die Zentralregierung Ausgaben blockiert. Für einen Politikwechsel hätte es kein Geld gegeben, so Gabarre.

Trotzdem brachte die Stadtregierung einiges auf den Weg. So brach sie mit der Kultur der Korruption, erhöhte die Sozialausgaben und reduzierte die Schulden. Durch ein eigenständiges Umweltressort und Maßnahmen, wie der Einführung eines partiellen Fahrverbotes in der Innenstadt, wurde der Umweltdiskurs in der Stadt verankert. Leerstehende Gebäude wurden für zivilgesellschaftliche Akteure nutzbar gemacht. Den Bezirksverwaltungen sprach die Stadtregierung mehr Kompetenzen zu. Die Polizei sollte für Racial Profiling sensibilisiert werden. „Am Ende haben wir aber keine radikale Politik gemacht“, befindet Gabarre. Das machen stadtpolitische Initiativen vor allem an zwei Dingen fest: dem sozialen Zentrum »La Ingobernable« und dem Megaprojekt »Madrid Nuevo Norte«.

Konfrontation oder Gehorsam

Das zweistöckige Gebäude des »La Ingobernable« liegt in der Calle del Gobenador zwischen den renommiertesten Museen im Zentrum Madrids. Die Stadt verschenkte es 2013 unter der konservativen Bürgermeisterin Ana Botella an einen Architekten mit Verbindungen zum ehemaligen Ministerpräsidenten José Aznar, der wiederum mit Botella verheiratet ist. Im Jahr 2017 wurde das Gebäude besetzt und zum Sozialen Zentrum erklärt. Da der Architekt den im Schenkungsvertrag vereinbarten Verpflichtungen nicht nachgekommen war, eröffnete sich für die Regierung die Möglichkeit, das Gebäude zurückzufordern. Doch die Verhandlungen über eine Legalisierung des »La Ingobernable« mussten erst von unten erzwungen werden, erzählt Julia Acacias. Zu den Gesprächen erschien das Rathaus dann mit dem Angebot, man könne das Gebäude nutzen, müsse es sich aber teilen. Für das Soziale Zentrum, das in gut zwei Jahren Besetzung Raum für 40 Kollektive und mehr als 3.500 Aktivitäten mit knapp 140.000 Besucher*innen geboten hat, war das keine Option. „Carmena und ihre Leute hatten keine Lust auf diese Art von Aktivismus, ganz einfach“, sagt Manuel Gabarre. Im Wahlkampf 2019 wurde die Räumung dann ein zentrales Versprechen der Rechten. Carmena begegnete dem Druck, indem das Rathaus selbst ein Räumungsverfahren in Gang setzte. Der Neue Munizipalismus verschreibt sich eigentlich dem Erhalt selbstorganisierter sozialer Zentren. Dass »Ahora Madrid« am Ende selbst das »La Ingobernable« räumen wollte, stößt vielen bitter auf.

Gleich neben dem Bahnhof Chamartín im Norden Madrids ragen vier kalte Türme in den Himmel. Entlang der Bahnschneise wird dort eines der größten Bauprojekte Europas entstehen. Hunderte Gebäude, 2,6 Quadratkilometer Fläche, 25 Jahre Bauzeit, 7,3 Milliarden Euro Kosten, den Londoner Finanzdistrikt als Vorbild. Das Gelände wurde in den 1990er Jahren von der Staatsbahn an eine Bank verkauft. Mit den Jahren wurden die Verträge unter jedem für die Liegenschaften zuständigen Bundesminister erneuert. Die Gewinnbeteiligung für den Staat sank dabei von 53 auf 0 Prozent, währenddessen sich die verkaufte Fläche verdreifachte. Am Ende betrug der Verkaufspreis die Hälfte des Marktniveaus, während Weiterverkäufe ermöglicht wurden. Nach Meinung vieler Kritiker*innen hätte die planungsrechtlich zuständige Stadtregierung den Vertrag vor Gericht bringen sollen. Im Erfolgsfall hätte sich die Möglichkeit ergeben, eine neue Planung in kommunaler Hand aufzustellen. In jedem Fall wäre die dubiose Vertragsgeschichte ans Licht gekommen. „Carmena hatte an diesem Punkt die Wahl zwischen Konfrontation und Gehorsam und hat sich für den Gehorsam entschieden. Was jetzt kommt, ist kapitalistischer Urbanismus pur“, so Gabarre, der meint, dass sich Carmena an diesem Punkt vom Druck von rechts frei gekauft hätte. Und tatsächlich: Nachdem es grünes Licht für das Projekt gab, verlor die mediale Kritik an Schärfe.

So wird das stadtentwicklungspolitische Vermächtnis der munizipalistischen Regierung die Privatisierung eines gesamten Stadtteils sein. Unter den 10.500 neuen Wohnungen entsteht keine einzige Sozialwohnung. Ohnehin sei nach Ansicht Sonia Martínez eine eigenständige Wohnungspolitik Ahora Madrids nicht existent gewesen. Obwohl die Wohnungsfrage das größte Problem der Stadt sei. Und auch Julia Acacias erzählt, wie Initiativen immer wieder Forderungen nach einer neuen Ausrichtung der städtischen Wohnungsgesellschaft, der Enteignung von leerstehendem Wohnraum, einem härteren Vorgehen gegen Ferienwohnungen und dem Stopp von Zwangsräumungen erhoben hätten. Vergebens.

Für die Abwahl der munizipalistischen Regierung finden sich verschiedene Faktoren. Gonzalo Maestro weist darauf hin, dass der erfolgreiche Wahlkampf 2015 geprägt gewesen sei von einer kreativen und vielfältigen Unterstützung der Initiativen und Kulturschaffenden. Das war 2019 nicht mehr so, auch wegen der Zerwürfnisse zwischen Bündnis und Bewegung. Auf linker Seite fehlte das besondere Moment, das es in einer Stadt mit rechter Dominanz braucht, um eine Wahl zu gewinnen. Währenddessen mobilisierte die neue Partei Vox zusätzlich das rechte Lager und zog neu in das Stadtparlament ein. Dazu kam, dass der ehemalige Stadtrat für Wirtschaft nun mit einer eigenen Liste antrat, nachdem er sich im Streit von »Ahora Madrid« getrennt hatte. Auch hier war das Motiv die fehlende Konfliktbereitschaft Manuela Carmenas. So wollte der Stadtrat Überschüsse für öffentliche Ausgaben und nicht zur Schuldentilgung nutzen. Die Zentralregierung drohte der Stadt daraufhin mit dem Entzug von Selbstverwaltungsrechten. Die Wiederwahl scheiterte auch an der mangelnden Unterstützung aus der städtischen Peripherie, vor allem aus dem ärmeren Südteil. Von dort gab es die Kritik, dass sich die munizipalistische Regierung programmatisch zu sehr auf eher linksliberale innerstädtische Themen konzentriere. Am Ende war es dennoch knapp. Schon 2015 brauchte »Ahora Madrid« die neun Abgeordneten der sozialdemokratischen PSOE, um genau auf die für die absolute Mehrheit notwendigen 29 Sitze zu kommen. Nun verloren beide jeweils einen Sitz.

Ein Syriza-Moment

Während man mit den Madrider Aktivist*innen spricht, hat sich der neue Bürgermeister bereits daran gemacht, die Maßnahmen seiner Vorgänger*innen zurückzunehmen. Julia Acacias ist erschöpft. Nicht nur hätte der Gang in die Institution viele Initiativen geschwächt. In den letzten Jahren seien auch extreme zwischenmenschliche Zerwürfnisse entstanden. „Viele Leute sind richtige Arschlöcher geworden“, sagt Manuel Gabarre. Der Neue Munizipalismus erzeuge Hoffnungen auf etwas, das die politischen Strukturen nicht hergeben. Sonia Martínez spricht von einem Syriza-Moment, gezeichnet von Resignation und Enttäuschung. Ja, man habe das Rathaus verloren, schreibt Gonzalo Maestro, „aber, was niemand sagt, ist, dass wir viel Bewegung verloren haben, dass wir Organisierung verloren haben und dass wir Zeit verloren haben.“ Zeit, um sich der Frage zu widmen, wie man die einst so kraftvollen sozialen Bewegungen so weiterentwickeln kann, dass sie eine Alternative zum Parlamentarismus darstellen können.

Gemessen an seinen Versprechen ist der Neue Munizipalismus in Madrid gescheitert. Diese Erfahrung ist im lokalen Kontext zu sehen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass sich gutklingende Manifeste vor Ort beweisen müssen. In einem guten Moment das Rathaus zu stürmen, gelingt vielleicht. Viel wichtiger ist aber die Frage nach dem Danach. Wer besetzt die Posten? Wie werden Initiativen eingebunden? Welche Handlungsspielräume gibt es überhaupt? Und ist eine munizipalistische Stadtregierung bereit, in den Konflikt mit dem Kapital und der politische Rechten zu gehen? Und selbst dann besteht immer noch die Frage, ob die Absorptionskräfte des parlamentarischen Systems nicht doch zu groß sind. Vielleicht geht es beim Neuen Munizipalismus am Ende darum, dass sich Menschen in Ämter wählen lassen, um sozialdemokratisch-grüne Kommunalpolitik zu machen. Das ist nicht verwerflich, aber auch nicht neu oder rebellisch. Und natürlich könne eine Bewegung einen strategischen Fuß in die Institution setzen, findet Julia Acacias, solange das starke Bein auf der Straße verbliebe. Nur dann sollte, da sind sich alle einig, vorher das Wie geklärt sein.


Autor

Stefan Romvári hat zwei Monate seiner Elternzeit in Madrid verbracht. Sonst ist er stadtpolitisch in Berlin organisiert


Foto

Asamblea der »15M-Bewegung« auf dem Plaza de Jacinto Benavente in Madrid (Mai 2011). Die große Mobilisierung der »15M-Bewegung«, die Bewegung der Platzbesetzungen, bildete eine wichtige Basis für die ersten Wahlerfolge des spanischen Munizipalismus | Foto: Beatriz Paredes, Archivo 15M (CC-BY-NC-SA)


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