Diverse Kerngruppen statt Organic Leaders als Schlüssel zum Erfolg?

Erfahrungen aus dem Organizing von Deutsche-Wohnen-Mieter*innen in Berlin

Bundesweit kämpfen immer mehr Mieter*innen gegen steigende Mieten und Verdrängung. Erfolgreich ist dieser Widerstand vor allem dann, wenn sich Mieter*innen zusammentun und sich gemeinschaftlich wehren. Dieser Organisierungsprozess wird immer häufiger von außen durch stadtpolitische Aktivist*innen angestoßen, die nicht selbst in den betroffenen Häusern wohnen. Diese stützen sich dabei auf Methoden des Organizing, das ursprünglich aus den USA kommt. Organizing steht dabei für das erlernbare Handwerk, Menschen zu organisieren, damit diese sich für ihre Interessen einsetzen können. In »Común« werden regelmäßig solche Organizing-Erfahrungen reflektiert, etwa von Vonovia-Mieter*innen in Leipzig-Schönefeld (Comun #2 2019), in Beständen eines teilprivatisierten Wohnungsunternehmens in Jena-Lobeda (Comun #3 2020) oder von Betroffenen verschiedener profitorientierter Wohnungskonzerne in Berlin, durch die »AG Starthilfe« von »Deutsche Wohnen und Co enteignen« (Común #2 2019).

Aufgrund meiner Erfahrungen in der berlinweiten Vernetzung der Deutsche-Wohnen-Mieter*innen, komme ich zu folgender These: Organizer*innen müssen, um starke Mieter*inneninitiativen anzustoßen, die richtigen Aktiven finden und „entwickeln“. Einen entscheidenen Vorteil sehe ich überdies darin, eine möglichst diverse Kerngruppe zu bilden, die schlussendlich die Initiative selbst tragen kann. Die Deutsche-Wohnen-Mieter*innen wehren sich als Verbund lokaler Initiativen gegen die Verwertungsstrategien von Berlins größtem Wohnungskonzern. Hier organisieren sich überwiegend Menschen außerhalb linker Zusammenhänge und Szeneviertel. Und es sind nicht zuletzt genau die Aktivitäten dieses Verbunds, welche die Rufe nach einer Enteignung profitorientierter Wohnungskonzerne bundesweit und bis in die Mitte der Gesellschaft populär gemacht haben. Anstoß für meine Überlegungen in diesem Text ist ein Konzept, das in der deutschen Organizing-Landschaft heiß diskutiert wird.

Kernaktive finden

Die US-amerikanische Gewerkschaftsorganizerin Jane McAlevey hat viele inspiriert, indem sie den schillernden Begriff des organic leader (dt. organische Anführer*in) in die deutsche Organizing-Debatte eingeführt hat. Was sie vorschlägt, klingt ein wenig nach einer Schatzsuche: Entscheidend, um Gruppen erfolgreich zu organisieren, sei es, in deren Mitte die organic leader zu finden und diese noch gezielter einzusetzen. Diese Anführer*innen sehen sich selbst selten als Führungspersonen, so McAlevey, man erkenne sie aber daran, dass sie großen Respekt genießen und Einfluss auf ihr Umfeld haben. Ein Beispiel wäre die erfahrene Krankenpflegerin, an die sich alle Kolleg*innen wenden, wenn sie nicht weiter wissen und sich darauf verlassen können, bei ihr auf offene Ohren zu stoßen. Nachdem man die*den organic leader überzeugt habe, würden alle anderen dieser Person ohne weitere große Anstöße folgen und es werde möglich, erfolgreiche Kämpfe zu führen.

Schnell wird klar, dass dieser Ansatz, der entwickelt wurde, um Arbeiter*innen am Arbeitsplatz zu organisieren, nicht eins zu eins auf Mieter*innen in einer Nachbarschaft übertragbar ist. Meiner Erfahrung nach macht es keinen Sinn, organic leaders in Siedlungen von Deutsche Wohnen und Co. zu suchen, denn es gibt sie schlichtweg nicht. Die Situation in einer Nachbarschaft unterscheidet sich deutlich von der am Arbeitsplatz. Bei der Arbeit sieht man sich jeden Tag, muss kooperieren, tauscht sich nebenbei auch über Persönliches aus und wächst unter Kolleg*innen zusammen. Man lernt andere gut kennen und baut Vertrauen in sie auf. In Nachbarschaften gibt es das alles in der Regel nicht. Hier erschöpft sich der Zusammenhalt häufig im kurzen Gruß im Treppenhaus. Engere soziale Gefüge sind in Berlins Deutsche-Wohnen-Siedlungen erst entstanden, nachdem sich die Mieter*innen organisiert hatten.

Trotzdem ist McAleveys Ansatz ein wichtiger Denkanstoß, um besser zu werden beim Organisieren von Mieter*innen. Denn auch meine Erfahrung zeigt, es macht Sinn potenzielle Anführer*innen zu identifizieren und direkt mit ins Boot zu holen. Diese Anführer*innen können auch als Kernaktive bezeichnet werden. Dieses Konzept der leadership identification ist eigentlich ein alter Hut im Organizing. Doch McAleveys Verdienst ist, dass sich viele neu mit diesen Fragen beschäftigen und versuchen, sie in ihre individuelle Praxis zu übertragen. Doch wer ist als Kernaktive*r geeignet? Sicher nicht der Lauteste, der auf der Versammlung alle anderen übertönt. Auch nicht unbedingt die Juristin, die alle Paragraphen genau kennt. Nein, es geht vielmehr darum, die richtige Mischung an Leuten zusammenzustellen, die andere mitnehmen wollen und begeistern können.

Kerngruppen entwickeln

Es ist besser, wenn nicht einzelne Personen eine Initiative tragen, sondern diese Arbeit auf mehrere Schultern verteilt wird. Leider ist häufig das Gegenteil der Fall. Insbesondere Frauen schlüpfen oft in die Rolle der alleinigen Organisatorin, bei der alle Fäden zusammenlaufen, die Treffen plant, einlädt und moderiert. Was zunächst als praktisch erscheint, wird oft zum Problem. Leider schlafen viele Initiativen schnell ein, wenn die entscheidende Schlüsselfigur überlastet oder frustriert ausfällt. Deshalb sollte man lieber gleich von Anfang an ein ganzes Team aufbauen – ohne eine Gruppe aus Kernaktiven fällt es viel schwerer, die gesetzten Ziele zu erreichen. Solche Kerngruppen zeichnen erfolgreiche und beständige Initiativen aus. Wie man diese genau nennt ist erst einmal völlig egal, gebräuchliche Namen sind auch Koordinierungs- oder Vorbereitungskreis, oder Aktivengruppe. In der Broschüre »Zusammentun!« unserer »AG Starthilfe« haben wir eine Anleitung zum Aufbau von Mieter*innen-Initiativen verfasst. Darin beschrieben wir auch, was eine Kerngruppe ausmacht: Sie lädt zu den Versammlungen ein, bereitet diese vor und legt fest, was besprochen wird. Gebraucht werden Menschen mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und Kontakten. Hier sind nicht nur professionelle Skills wie Presse-, Moderations- oder Textarbeit gefragt. Ein Mitstreiter meiner Deutsche-Wohnen-Initiative zum Beispiel war Stammgast in einem Café mit Hinterzimmer – ein Treffpunkt für die Kerngruppe war dadurch gesichert. Auch hat sich die Praxis bewährt, dass die Kerngruppe die Initiative nach außen vertritt, also gegenüber dem Vermieter, der Presse oder Politiker*innen.

Gute Organizer*innen arbeiten daran, dass die Kernaktiven immer mehr Verantwortung selbst übernehmen. Robert Maruschke geht in seiner Publikation „Linkes Organizing“ auf dieses „Entwickeln“ oder „Ausbilden“ von Kernaktiven ein (S.17ff), das auch als leadership development bezeichnet wird. Von Anfang an sollte offen besprochen werden, warum es dabei geht. Nämlich darum, dass sich die Gruppe selbst organisieren kann, wenn die Organizer*innen wieder weg sind. Dabei ist ein respektvoller Umgang miteinander entscheidend: Organizer*innen sollten niemals als Allwissende auftreten, die ihre „Schüler*innen“ ausbilden. Denn alle Beteiligten haben wertvolle Erfahrungen und Fähigkeiten, die es fruchtbar zu machen gilt. Es geht also darum, einen Prozess des gegenseitigen Lernens anzustoßen. Zentral beim Organizing ist ein Plan, wie man gewinnen kann. Dieser sollte gemeinsam in der Kerngruppe entwickelt werden, damit sich die Aktiven auch gleich mit verantwortlich fühlen, diesen umzusetzen. Spätestens wenn der Plan steht, geben die Organizer*innen schrittweise Verantwortlichkeiten ab. Die Kerngruppe teilt diese dann wiederum unter sich auf. Hier hat es sich bewährt, dass sich die Aktiven durch Schulungen fit für diese Aufgaben machen. Als »AG Starthilfe« haben wir dafür Ansprachetrainings, Moderationsworkshops und Presseschulungen entwickelt und in Grundzügen in unserer Broschüre festgehalten.

Alle ins Boot holen

In vielen Mieter*inneninitiativen spiegelt sich nicht die Diversität ihrer jeweiligen Nachbarschaft wider. Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen, Familien mit kleinen Kindern, Nachbar*innen mit wenig Geld oder bestimmte Altersgruppen sind oft unterrepräsentiert. Zu einer echten Organisierung ganzer Siedlungen oder Nachbarschaften kommt es in den seltensten Fällen. Neben einem Demokratiedefizit folgt daraus auch ein praktisches Problem. Zum Beispiel dann, wenn man Kampagnen in einer Nachbarschaft starten möchte, um etwas gemeinsam gegen den Vermieter durchzusetzen, etwa indem man kollektiv die Miete mindert oder gegen überhöhte Nebenkosten vorgeht. Je mehr Leute bei solchen Aktionen mitmachen, desto effektiver. Doch wie kann das gelingen? Das ist weiterhin eine offene Frage. In diesem Zusammenhang sollten es Organizer*innen von vorneherein als strategische Schlüsselfrage begreifen, dass sich die Kerngruppe divers zusammensetzt, also aus Personen besteht, die die Siedlung oder das Haus in ihrer Gesamtheit repräsentieren. Wer fühlt sich vertreten von denen, die die Versammlungen leiten und für die Initiative nach außen sprechen? Wer fühlt sich von wem eingeladen? Diese Fragen gilt es zu beantworten, damit sich mehr Menschen mit der Initiative identifizieren, zu den Treffen kommen, sich dort aufgehoben fühlen und selbst einbringen. Wenn auf der Versammlung rassistische Äußerungen fallen, ist es wichtig, dass Kernaktive und Organizer*innen widersprechen. Es muss klar werden, dass alle Menschen willkommen sind den gemeinsamen Kampf zu führen.

Eine Erweiterung der Kerngruppe lässt sich am besten mit der grundlegendsten Organizing-Technik schlechthin erzielen: dem Eins-zu-eins-Gespräch. Als soziale Wesen wollen Menschen gefragt werden und deswegen ist das persönliche Gespräch entscheidend. Ein gutes Eins-zu-eins-Gespräch ist dabei alles andere als ein Kaffeeklatsch. Für diese Gespräche sollte man gut vorbereitet sein, will man eine Person für die Kerngruppe gewinnen. Ob es so klappt, diversere Mieter*innen-Initiativen aufzubauen, um sich gegen Vonovia, Deutsche Wohnen und Co zu behaupten, kann nur die gemeinsame Organizing-Praxis zeigen.


Autor

Hannes Strobel ist Soziologe und beschäftigt sich insbesondere mit dem Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit. In seiner Freizeit engagiert er sich seit vielen Jahren in der stadtpolitischen Bewegung, derzeit in der »AG Starthilfe« der Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« in Berlin (▷ dwenteignen.de).


Weiterlesen

AG Starthilfe (2019b): Zusammentun! Wie wir uns gemeinsam gegen den Mietenwahnsinn wehren können. ▷ deutsche-wohnen-protest.de


Materialien

Maruschke, Robert (2019): Linkes Organizing. Interviews und Arbeitsmaterialien, RLS, Berlin.
McAlevey, Jane (2019): Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing, VSA, Hamburg.
Strobel, Hannes (2020): Organisiert gegen einen profitorientierten Wohnungskonzern. Fünf Jahre berlinweite Vernetzung der Deutsche-Wohnen-Mieter*innen“, sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 8(3), S. 195–204.


Illustration

Lotta Bauer