Gesundheit als Ansatzpunkt emanzipatorischer Politik
Gesundheit ist wichtig, darauf können sich alle schnell einigen. Sie gilt als eins der höchsten Güter unserer Zeit – in den letzten Monaten ist dies im Zuge der Covid-19-Pandemie besonders deutlich geworden. Politische Entscheidungen und Maßnahmen wurden damit erklärt, dass die Gesundheit an erster Stelle stehe. Ob bei städtischen Plakatkampagnen, im Familien- und Freund*innenkreis oder in jeder x-beliebigen E-Mail: „Bleib gesund!“ ist omnipräsent.
Der Zynismus hinter dieser Aufforderung ist kaum auszuhalten, können wir doch nur zu einem geringen Teil mit unserem individuellen Verhalten etwas dazu beitragen. Heute gilt die Maxime: „So gesund wie nötig, so erwerbsfähig wie möglich.“ Die neoliberale Maxime und Auswirkungen prekärer Lebensverhältnisse spiegeln sich häufig in den Vierteln der Stadt wider. In Wohnblöcken in Göttingen und Neukölln oder Arbeiter*innenvierteln in Madrid spitzten sich neben der Infektionslage auch die staatlichen Repressionen zu.
Im Stadtteil werden politische Mechanismen unmittelbar greifbar. Hier ist unser Wohn- und Rückzugsort, ein lebenswertes Umfeld ist wichtig. An diesem Ort wirken Determinanten wie Umwelt, soziale und kulturelle Netzwerke und Versorgungsstrukturen direkt auf uns ein. Positiv wie negativ, ob wir wollen oder nicht: Unser Wohnort hat massiven Einfluss auf unser Wohlbefinden. Dieses Potential hat die Recht auf Stadt-Bewegung schon lange erkannt – emanzipatorische Gesundheitspolitik im Viertel hingegen ist ein recht neues Unterfangen.
Individualisierte Verantwortung fürs Gemeinwohl
Die Verantwortung für Gesundheit wurde in den letzten knapp 50 Jahren erfolgreich individualisiert. Wer krank ist, liegt entweder dem Staat oder den fleißigen und disziplinierten Anderen auf der Tasche. Mit der Pflicht zur Arbeit geht im Sozialstaat die Pflicht zur Gesundheit einher. Dabei sollen etwa Yoga-Kurse oder Fitness-Apps helfen. Gesundheit ist als Ware auf dem Markt angekommen. Außer Acht gelassen wird, dass die Gesundheit der Einzelnen zu Zweidritteln von den Verhältnissen abhängt, in denen wir leben. Ein Apfel am Tag gleicht niemals schlechte Arbeitsbedingungen oder Wohnverhältnisse, Umweltbedingungen oder Diskriminierungserfahrungen aus. Diese Faktoren werden als soziale Determinanten von Gesundheit bezeichnet. Unbestritten ist der Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit. Das lässt sich sehr drastisch innerhalb deutscher Großstädte erkennen. Zwischen den ärmsten und reichsten Vierteln in Hamburg beträgt die Differenz der durchschnittlichen Lebenserwartung bis zu 16 Jahren.
Gesundheit für alle heißt nicht weniger als ein gutes Leben für alle
Ausgehend vom wenig radikalen Gesundheitsverständnis der WHO, dass Gesundheit mehr ist als die bloße Abwesenheit von Krankheit, sondern vielmehr als vollständiges körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden definiert ist, wird die Komplexität des Themas deutlich. Wenn Gesundheit zum Gemeingut werden soll, müssen alle Aspekte kollektiviert werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Verständnis von Gesundheit ist dafür dringend nötig. Ob Fitnesswahn und Körperkult oder Body- und Foodshaming – auch innerhalb der Linken wird das neoliberale Narrativ reproduziert. Gesund sollte in erster Linie heißen, dass Menschen ein Leben mit maximal möglichem Wohlbefinden führen können. Die Gesundheit eines Einzelnen lässt sich nicht kollektivieren, wohl aber die darauf einwirkenden Schutz- und Risikofaktoren. Benachteiligungen können kollektiv getragen werden und eine Gesundheitsversorgung solidarisch aufgebaut sein.
Erstes Doppel: Versorgung und Förderung
An dieser Stelle tritt die erste Doppelstrategie linker Gesundheitsarbeit im Kapitalismus auf. Es gilt zwischen Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung zu unterscheiden.
Gesundheitsversorgung sollte heißen, solidarische Infrastrukturen aufzubauen und so einen Zugang für alle unabhängig von sozialem Status oder vorhandener Krankenversicherung zu schaffen. Hierbei gibt es zahlreiche Ansätze, seien es die im Zuge der Krise 2008 in Griechenland entstandenen solidarischen Praxen oder die MediBüros in Deutschland. Solche Versorgungsstrukturen innerhalb des Systems aufzubauen, ist schon eine Herausforderung für sich, bleibt aber meist an dem Punkt stehen, dass staatliche Aufgaben übernommen werden. Dennoch sind sie ein wesentlicher Bestandteil und guter Ausgangspunkt für den Weg hin zu einer vergesellschafteten Gesundheitsversorgung.
Diese Gesundheitsversorgung geht über den medizinischen Teil hinaus und nimmt nicht nur die behandelbaren Symptome und Krankheiten, sondern auch strukturelle Ursachen in den Blick. Damit befinden wir uns im Bereich der Gesundheitsförderung. Der hier notwendige gesamtgesellschaftliche Ansatz wurde schon früh von der WHO erkannt und wird im wissenschaftlichen Diskurs als „Health in all Policies“ beschrieben.
Es bedarf also einer gesundheitsförderlichen Intervention in alle Lebensbereiche mit dem Ziel, Faktoren sozialer Ungleichheiten abzubauen und irgendwann aufzulösen. Damit wird Gesundheit zur sozialen Frage, die nur politisch verhandelt werden kann. Die staatlichen Maßnahmen sind hier Ergebniskosmetik. Mit der Begründung der fehlenden Zuständigkeit wird sich vor der Verantwortung gedrückt. Da der neoliberale Sozialstaat bekanntlich kein Interesse daran hat, soziale und gesundheitliche Ungleichheit zu beseitigen, kann es nur darum gehen, ihn zu überwinden.
Zweites Doppel: Reformen und gelebte Utopie
Auch innerhalb des Systems können durch kleinere und größere Reformen konkrete Verbesserungen erreicht werden. Eine Vergesellschaftung des Gesundheitssektors schafft noch lange keine befreite Gesellschaft, widerspricht aber der Logik des Kapitalismus massiv. Es mag aus linker Perspektive ein völlig unzureichendes Zugeständnis sein, verbessert aber die Lebenssituation von Nutzer*innen erheblich. Gleiches gilt für die großen Sektoren, die sich negativ auf unsere Gesundheit auswirken. Das Abschalten von Kohlekraftwerken oder die Enteignung großer Immobilienkonzerne sind auch nur kleine, aber relevante Schritte auf einem langen Weg.
Staatsappelle reichen jedoch nicht aus. Linke Bewegungen, die es dabei belassen, werden auf Dauer nicht erfolgreich sein. Unverzichtbarer Bestandteil ist der Aufbau von potenziell post-kapitalistischen Strukturen. Kollektiv organisierte Versorgungsstrukturen, nicht nur im Gesundheitsbereich, sind wesentlicher Bestandteil. Strukturen in denen solidarisches Handeln weitestgehend gelebt wird, Hierarchien abgebaut werden und Menschen auf den Geschmack emanzipatorischer Praxis kommen können. Solche Strukturen dürfen nicht raumschiffartig im Viertel landen, sondern müssen vielmehr zur selbstorganisierten Station werden, in der nicht nur vermeintlich professionelle Expert*innen die Praxis bestimmen.
Drittes Doppel: Gesundheit als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderung
Stress im Job, schlechte Luft in der Großstadt oder Schimmel in der Wohnung: Nirgendwo werden die Auswirkungen des Kapitalismus deutlicher und greifbarer als bei der eigenen Gesundheit. Fast alle Menschen haben mit mindestens einem dieser Aspekte persönliche Erfahrungen gemacht. So können die Probleme von Einzelnen auf einer strukturellen Ebene erklärt und in größeren Zusammenhängen verdeutlicht werden. Die ärztliche Sprechstunde kann zum Startort politischer Veränderungsprozesse werden, wenn die dort auftretenden Probleme nicht ausschließlich mit medizinischer Behandlung bearbeitet werden. Die Soziale Arbeit kann aus ihrer Profession heraus den sozialen Bewegungen zuarbeiten.
Stadtteilgesundheitszentren, wie sie im Poliklinik-Syndikat mehr und mehr entstehen, sollen sowohl Orte der Versorgung als auch Orte der Zusammenkunft und damit Ausgangspunkte für Prozesse sein. Der direkte Bezug zum und die kontinuierliche Verankerung im Stadtteil ermöglichen es, Probleme sichtbar werden zu lassen und zu bearbeiten. Dabei ist eine Kooperation mit anderen Strukturen und Initiativen unerlässlich. Es geht nicht darum, das Rad der politischen Organisierung neu zu erfinden oder soziale Bewegungen zu zentralisieren. Vielmehr ist es eine Option, um die zahlreichen sozialen Kämpfe örtlich und inhaltlich zu verbinden, Menschen sowohl individuelle Hilfe zukommen zu lassen als auch die strukturellen Ursachen dahinter anzugehen. Eine Option, um an den Lebensrealitäten und -problemen konkret anzusetzen und davon ausgehend gemeinsam im Kleinen Organisierungsprozesse anzugehen. Solidarische Gesundheitszentren, in denen diese Ansprüche vereint werden, könnten in Kombination mit Methoden des Transformative Community Organizing dazu beitragen.
Gesundheitspolitik in einer solidarischen Stadt
Bei so vielen Dopplungen besteht leicht die Gefahr, das Schwierigere ein wenig oberflächlich zu behandeln. Ein staatlich finanziertes, solidarisches Gesundheitszentrum, in dem auf strukturelle Ursachen hingewiesen wird, zu etablieren, ist eine Herausforderung. Der transformative Gehalt eines solchen Projektes hält sich in Grenzen – Gesundheit wird so noch lange nicht zum Gemeinwohl. Es braucht eine mutige Praxis: Wenn wir Gesundheit für Alle wollen, wollen wir nicht weniger als Alles. Das solidarische Gesundheitszentrum bleibt dabei nur einer von vielen Orten in der solidarischen Stadt.
Autor
Jonas Löwenberg ist Aktivist und Sozialarbeiter. Er beschäftigt sich mit sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit und ist Teil des Kollektivs der Poliklinik Leipzig.
Weiterlesen
▷ Klein, Dieter: Doppelte Transformation. Eine Konsultation Ernst Blochs. Berlin 2018
▷ Schmidt, Bettina: Exklusive Gesundheit. Gesundheit als Instrument zur Sicherstellung sozialer Ordnung. Wiesbaden 2017
▷ Poliklinik Veddel: poliklinik1.org
▷ Poliklinik Leipzig: poliklinik-leipzig.org
▷ Poliklinik Syndikat: poliklinik-syndikat.org
Illustration
Rainer Midlaszewski unter Verwendung eines Fotos von Halacious (unsplash.com)