„Ein Bild einer Gesellschaft, für die Migration integraler Bestandteil des Zusammenlebens ist“

Bewohner*innen und Initiativen kämpfen für ein Mahnmal in der Kölner Keupstraße zum Gedenken an die Opfer der Anschläge des NSU 2001 und 2004 – Ein Interview mit Gesine Schütt und Daniel Poštrak von der Initiative »Herkesin Meydanı – Platz für Alle«.

Wie lange seid ihr schon dabei, dieses Mahnmal zu planen und zu fordern?

Daniel: Das ist tatsächlich gar nicht so leicht zu beantworten. Es gibt keinen Tag null, an dem alles begann. Der Hintergrund sind der Nagelbombenanschlag in der Keupstraße und der gesellschaftliche Umgang mit den Betroffenen in den Jahren danach. Die Erfahrung, dass die Opfer schnell wussten, dass Neonazis die Täter*innen waren, sie den rassistischen Hintergrund benannten – und niemand ihnen glaubte. Es gab Drohungen seitens der Ermittler*innen, Einschüchterungsversuche, es gab das vorherrschende Narrativ der kriminellen Keupstraße. Immer wieder wurden Bewohner*innen der Straße unter Druck gesetzt, andere zu denunzieren. Die Opfer wurden zu Täter*innen erklärt. Nach dem Anschlag 2004 folgten sieben lange Jahre, in denen die Keupstraße im Grunde genommen auf sich selbst gestellt war. 2011 war dann mit der Enttarnung des NSU plötzlich klar: Die Bewohner*innen der Keupstraße haben natürlich nicht selber diese Bombe gelegt, sondern Nazis. Ab dem Moment wurde auch in der Keupstraße wieder anders über den Anschlag gesprochen. Es gab das Bedürfnis, endlich als Opfer anerkannt zu werden. An anderen Anschlagsorten des NSU wurden Plaketten installiert, es wurde der Opfer gedacht – nur nicht in Köln.

Aus welchen Zusammenhängen und Gruppen ging die Initiative für das Mahnmal hervor?

Daniel: Es gibt verschiedene Initiativen, wie zum Beispiel die Initiative »Dostluk Sineması«, die ab 2011 eine Film- und Veranstaltungsreihe in der Keupstraße durchgeführt hat, und dann später die Initiative »Keupstraße ist überall«. Die Forderung nach einem Gedenkort wurde immer wieder von den Betroffenen des Anschlags formuliert. Als Initiativen haben wir diese Forderung verstärkt, so dass sie auch von städtischen Playern nicht mehr ignoriert werden konnte. Schließlich hat der Integrationsrat einen Vorschlag zur Errichtung eines Mahnmals in den Stadtrat eingebracht, der dann 2015 angenommen wurde.

Das war 2015, erst vier Jahre nach der Aufdeckung des NSU-Komplexes?

Gesine: In der Tat hat die Stadt vier Jahre gebraucht, bis die Idee eines Denkmals konkret wurde. Der Entwurf für das Denkmal ging aus einem städtisch ausgelobten Wettbewerb hervor, der mit 50.000 Euro dotiert war. Das ist nicht viel. Der einstimmig ausgewählte Entwurf kommt vom Künstler Ulf Aminde. Teil seines Konzeptes ist die enge Zusammenarbeit mit den Initiativen und Betroffenen.

Wie wurde über den Entwurf abgestimmt?

Gesine: Neben den Betroffenen des Anschlags und den Initiativen waren auch Kulturschaffende und Personen aus politischen Gremien beteiligt. Und jede*r hatte jeweils eine Stimme im Wettbewerb. Entscheidend war, dass die Betroffenen so formal die Abstimmungsmehrheit in der Jury hatten. Das hat uns hoffnungsvoll gestimmt, dass etwas Gutes dabei herauskommen würde. Allerdings fingen da auch die Probleme mit der Stadt an. Denn der Entwurf sah einen speziellen Ort für das Mahnmal vor, der in Sichtweite vom Anschlagsort lag. Diese Fläche war zwar eine Industriebrache, jedoch im Besitz einer privaten Investorengruppe.

Wie habt ihr andere Menschen mobilisiert, sich für das Mahnmal starkzumachen? Und welche Methoden und Instrumente habt ihr eingesetzt, um die Leute und ihre Ideen und Wünsche einzubinden?

Gesine: Uns ist schnell klar geworden, dass wir gezielt um das Mahnmal und den Ort, an dem es stehen soll, kämpfen müssen. Auf die Stadt ist kein Verlass. Wir waren es, die aus dem Internet Bebauungspläne gezogen haben. Ulf hat ein Mahnmal-Modell gebaut, eine Augmented-Reality-Vorabversion. Wir begannen, den Ort für öffentliche Veranstaltungen zu nutzen, um zu zeigen: Genau hier tauscht man sich aus, wird Rassismus thematisiert, sind wir präsent.

Eine Veranstaltung hieß »Dostluk Sineması – Kino der Freundschaft«, was war das?

Daniel: Wir haben uns gefragt: Was ist da passiert? Ein Bombenanschlag, und wir sind nicht in der Lage, die rassistische Dimension zu erkennen? Wir organisierten Filmvorführungen über die Geschichte von Rassismus und Neonazis seit dem Mauerfall, diese neue Qualität des Rassismus, die wie eine Linie in die Keupstraße führte. Wir luden Menschen ein, die von den damaligen Anschlägen betroffen waren. Und die machten den Menschen dort Mut, wiederum ihre Geschichte zu erzählen.

Das war 2013 – das erste Mal, dass es etwas Derartiges gab. Wir waren da in genau den Läden, die immer rassistisch stigmatisiert worden waren. In den Hinterzimmern, den verrauchten Spiel-Cafés, der Süßwarenbäckerei, dem Restaurant, sogar in Hinterhöfen. Die Forderungen der Initiativen entstanden aus diesen Geschichten. Da ging es nicht darum, eine kurzfristige Kampagne zu führen, sondern sich als Teil einer langfristigen Auseinandersetzung zu sehen.

Warum ist das eine langfristige Auseinandersetzung?

Daniel: Wichtig ist, dass das Problem nicht nur der Anschlag selbst war, den irgendwelche Nazis verübt haben, sondern auch die Stigmatisierung, die das Geschehen davor und danach so stark beeinflusst hat: Die Keupstraße ist ein Symbol des migrantischen Lebens in Deutschland. Sie ist weit über Köln hinaus bekannt. Das ist der Grund, warum Nazis gerade diesen Ort gezielt angegriffen haben. Die Geschichte der Keupstraße steht stellvertretend für die Auflösung des Gastarbeiter*innenregimes, dafür, dass Menschen sich hier dauerhafte Existenzen und Rechte erkämpft haben. Dafür, dass Migration integraler Bestandteil der Stadtgesellschaft ist und diese mitbestimmt. Dieser emanzipatorische Prozess wird auch in der Auseinandersetzung um das Mahnmal sichtbar und zeigt, dass er umkämpft ist.

Gesine: Am 19. Februar letzten Jahres war der Anschlag in Hanau. All die Jahre gab es die Forderung „kein nächstes Opfer“ – und dann ist es wieder passiert. Viele Initiativen haben spontan an diesem Tag eine gemeinsame Trauerversammlung organisiert. Uns war sofort klar, die kann nur in der Keupstraße stattfinden. Da sind die Menschen, die vor Jahren auch einen Anschlag erlebt haben. Und diese Leute haben sich organisiert und gemeinsam an Stärke gewonnen. Die Keupstraße ist sehr eng, eine ganz schmale Straße, die durch die Migration seit den 1970er Jahren erhalten, belebt und geprägt wurde. Schon dieser Prozess bedeutete Kämpfe – gegen die Bürokratie, für das Bleiben, das Wirtschaften, um Anerkennung. Und dann standen wir am Tag nach Hanau in dieser Straße – 16 Jahre nach dem Anschlag des NSU – und es war sehr bewegend, tröstend und empowernd, die Stärke dieses Ortes nach so einem furchtbaren Ereignis zu erleben. Die Geschichte der Keupstraße darf nicht vergessen werden, sie muss immer wieder neu erzählt werden.

Unterm Strich – wie ist der aktuelle Stand und wie wird es weitergehen?

Gesine: Im September letzten Jahres wurde das Grundstück, auf dem das Mahnmal geplant war, an eine neue Investmentfirma verkauft. Im Dezember 2020 stellte sie eine Bauvoranfrage. Auch wenn die Stadt von ihren stadtplanerischen Instrumenten in Form von Bebauungsplänen, partizipativen Planungen oder dem Vorkaufsrecht keinen Gebrauch gemacht hat – so hat sie immerhin mit der neuen Eigentümerin über den gerade so notwendigen Platz für das Mahnmal an der gewünschten Stelle verhandelt. Qualitativ kommt baulich eventuell nicht das Beste raus und die Stadt hat eine riesige Chance vertan, hier Raum für einen wirklich beispielhaften, besonderen Platz zu schaffen. Aber das Mahnmal kommt – und zwar bald und an die geforderte Stelle. Das hätte vor zwei Jahren niemand für möglich gehalten und das ist super.

Daniel: Ich würde sagen, es ist ein großer Erfolg, den wir gemeinsam mit der Keupstraße erkämpft haben. Zum ersten Mal bekennt sich die Stadt öffentlich zu dem geforderten Standort für das Denkmal. Jetzt geht es erst richtig los: Wie wird das Mahnmal aussehen, wie groß und sichtbar wird es, welches Gedenken wird dort möglich sein? Es soll – weit über das Mahnen hinaus – ein Ort werden, an dem Treffen, Ausstellungen, Kino und vieles mehr möglich werden soll. Das Ganze soll nicht nur das Leid dokumentieren, sondern ein Bild einer Gesellschaft, für die Migration integraler Bestandteil des Zusammenlebens ist. Wir sind optimistisch, dass hier ein guter Platz für alle – ein Herkesin Meydanı – gebaut wird.


Interview

Gesine Schütt ist Architektin in Köln. Daniel Poštrak arbeitet für die Kölner Stadtzeitung »Stadtrevue« und als Filmemacher für Initiativen und Gewerkschaften, mit einem Schwerpunkt auf den Themen Antirassismus und Migration. Beide sind im bundesweiten Netzwerk »Tribunal NSU-Komplex auflösen« und bei »Herkesin Meydanı – Platz für Alle« aktiv.

Das Interview führte Kathi King. Sie ist Teil der Común-Redaktion.


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mahnmal-keupstrasse.de


Bild

Entwurf des Mahnmals Keupstraße: Ein Haus wird angegriffen, ein neues gebaut. Eine Betonplatte symbolisiert den Grundriss des Hauses, vor dem die Nagelbombe detonierte. Die Wände des Hauses werden als Augmented Reality mittels einer Smartphone-App sichtbar – in Form von Filmen, die Rassismus, Migrationsgeschichte und migrantischen Widerstand thematisieren. Rendering: © Studio Ulf Aminde 2019