Es geht um uns alle: Solidarische Städte in Zeiten von Corona

Ein Interview zur Situation in den Städten mit Mario Neumann, Aktivist und Mitautor von „Solidarische Städte in Europa“ aus der aktuellen Común #3/Mai 2020

Was ist der aktuelle Stand in den Städten bei der Diskussion um die Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland?

Es ist schon eine etwas merkwürdige Situation im Moment, nicht nur wegen Corona: Es gibt einerseits ein weiterhin großes Echo für die Forderung, dass Städte Geflüchtete aufnehmen und auch dafür, dass Städte in Erscheinung treten als politische Akteure und diese Forderung an die Bundesregierung richten. Für diese Option haben viele lange gekämpft und sie sollte weiterhin die Perspektive sein – als Gegenentwurf dazu, dass nur Nationalstaaten über die Aufnahme von Menschen entscheiden können. Das ist ein Prozess, der seit ungefähr eineinhalb Jahren intensiv stattfindet, wenn man ihn in etwa mit den Protesten der Seebrücke beginnen lässt. Mittlerweile ist es fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass Städte sich in die Diskussion aktiv einmischen.

Auf der anderen Seite gibt es meiner Meinung nach auch eine Gefahr, dass das in erster Linie eine Schaufensterpolitik wird, in der Städte sich mit dieser Forderung profilieren und in Szene setzen, ohne dass etwas Substantielles passiert. Es ist diskursiv natürlich trotzdem gut und wichtig, wenn gesagt wird: „Wir wollen aufnehmen“. Aber das ist natürlich für viele auch komfortabel, weil sie ja wissen, dass es folgenlos bleibt. „Wir würden ja gerne aber wir dürfen ja nicht“, so lässt sich die Geste zusammenfassen. Das ist die strategische Frage, in der der Prozess gerade steckt und in die ein bisschen mehr Bewegung reinkommen sollte. Die Frage, wie aus Städten wirklich rebellische Städte werden können, ist noch immer auf dem Tisch. Insofern ist es wichtig, auch weiterhin Druck von unten auf die Städte auszuüben und nicht nur auf die Bundesregierung. Die Städte sind natürlich an bestimmte institutionelle Regeln gebunden, aber das sollte nicht dazu führen, dass sie sich quasi hinter der Befehlskette verstecken können. Sonst gerät die Bewegung in eine strategische Sackgasse. Wenn die Städte sich schon zu sicheren Häfen erklären, dann muss das auch irgendetwas bedeuten.

Würdest du sagen, die Corona-Krise trägt dazu bei, dass jetzt mehr Druck aufgebaut wird, weil sich die Situation in Lagern wie Moria zuspitzt? Oder ist es eher so, dass durch Corona der Druck wegfällt, weil die Grenzen zu sind und dadurch schlechte Bedingungen für direkte Aufnahmen herrschen?

Klar ist, dass die Situation sich deutlich ändert und aktuell umgedeutet wird. Es geht nicht mehr nur um Asyl und Bleiberecht, sondern um Gesundheit und Gesundheitspolitik. Wessen Gesundheit zählt und wer wird einfach weggesperrt und sich selbst überlassen? Auch in Deutschland ist das ja zu spüren: Corona-Fälle in Flüchtlingsunterkünften werden eigentlich nur so gemanagt, dass niemand außerhalb angesteckt wird. Ob das Virus in den Unterkünften zirkuliert, scheint fast egal zu sein.

Die Frage der griechischen Inseln ist auch überlagert von Corona: Was zu beobachten ist, und das wird sich sicherlich noch stark entwickeln und verändern bis zum Sommer, ist eine Art zynische Endgültigkeit, mit der die Frage verhandelt wurde: Evakuiert man oder ignoriert man schlicht, was dort passiert, Hauptsache den Deutschen geht es gut. Da ist es wichtig, die Forderungen nach Aufnahme durch die Städte nicht abreißen zu lassen. Das kann jetzt Leben retten. Gleichzeitig braucht es auch pragmatische Notlösungen, wie beispielsweise die Verbesserung der medizinischen Bedingungen vor Ort. Da könnten Städte und Bundesländer jetzt auch eine Rolle spielen und nicht nur monothematisch über Aufnahme reden, die dann – unter den aktuellen Umständen – nicht geschieht. Sie können zumindest Hilfe, zum Beispiel Personal und medizinische Ausrüstung, in die Lager senden.

Am Ende sind die Städte jetzt fein raus – wenn sie bei geschlossenen Grenzen laut aufschreien und dann nichts tun müssen…

Nein, ganz so ist es nicht. Aber es muss eben vielfältig Druck aufgebaut werden, zum Beispiel wenn ein*e Bürgermeister*in für Aufnahmen eintritt, dann kann man auch fordern, dass sie*er sich politisch und auch persönlich gegen Abschiebungen einsetzt. Warum sollte ein Bürgermeister sich nicht auch mal von einer Blockade wegtragen lassen oder eine von Abschiebung bedrohte Familie in seiner Wohnung aufnehmen, quasi ein „Bürgermeister-Asyl“? Politiker*innen müssen beim Wort genommen werden, auch an anderen Stellen der Migrationspolitik und gerne auch dort, wo es für sie etwas ungemütlicher wird. Es gibt seit Jahren Bewegungen, die fordern, dass Menschen aus den Lagern in Deutschland rauskommen und dezentral aufgenommen werden. Es ist ja seit Jahren klar, dass die Lager auch eine sozialmedizinische Katastrophe sind. Insofern wäre es jetzt auch angesagt, die kommunalpolitischen Fragen anzugehen, wo es um die Rechte von Illegalisierten geht. Berlin hat jetzt beispielsweise in Corona-Zeiten deren medizinische Versorgung sichergestellt. Daran sollten auch die gemessen werden, die sich als solidarische Städte präsentiert haben.

Demos fallen weg, alle üblichen Aktionsformen sind unmöglich geworden. Können wir überhaupt noch laut sein? Was passiert durch die Krise?

Es gibt im Moment eine sehr starke mediale Aufmerksamkeit für die Situation in Griechenland und Italien. Moria und andere Lager sind tagtäglich in den Schlagzeilen. Die Corona-Krise erhöht den medialen Druck, dass jetzt wirklich etwas passieren muss. Auch in Malta steht die Regierung unter Druck nach einer skandalösen Aktion gegen ein Boot. Aber das Mediale ist im Moment fast der ausschließliche Schauplatz all dieser Auseinandersetzungen und wir wissen ja, wie wichtig – aber eben auch wie begrenzt – das Wirken über die Medien ist. Seenotrettung und Neuankünfte in Europa nehmen ab. Die Grenzen sind dichter denn je, aber die Migrationsbewegung ist zäh und wir werden schauen müssen, wie sich der gesundheitliche Notstand in einigen Ländern zukünftig in spontaneren Migrationsbewegungen ausdrückt, ob es also eine Flucht vor Corona und den Folgen (zum Beispiel politische Instabilität) geben wird. Das könnte sich über die kommenden Monate noch weiter verschärfen.

Die größte Gefahr auf lange Sicht scheint mir jedoch der Krisennationalismus zu sein, der sich jetzt möglicherweise einstellt. Das wird auch die Städte beschäftigen. In einer Post-Corona-Situation, werden es die Bürgermeister*innen schwer haben, auf die Außengrenzen zu schauen, wenn gleichzeitig kleine und mittlere Unternehmen in ihren Städten pleitegehen oder die Arbeitslosigkeit weiter steigt. Das könnte zum Problem werden für die Bemühungen um solidarische Städte und sichere Häfen: Der Blick dreht sich nach innen. Das könnte sogar gefährden, was die Solidarity City-Bewegung bereits investiert hat. Wir brauchen daher breit aufgestellte und starke soziale Koalitionen, die klar machen, dass es nicht nur um „Deutsche“ geht, sondern um uns alle. Die Solidarity City-Bewegung wird nach der Krise deutlich machen müssen, dass Solidarität auch nach außen wirken muss. Die „Soziale Frage“ wird darin eine große Rolle spielen und auch, ob sie nicht-national gestellt und beantwortet wird oder ob es am Ende auf ein „Germany first“ hinausläuft. Das gilt nicht nur in der Migrationspolitik, sondern auch in der Außenpolitik, in Europa oder der Entwicklungszusammenarbeit.

Gibt es derzeit soziale oder politische Strukturen, die auch nach der Krise Bestand haben könnten?

Unbedingt! Viele der spontan entstandenen Corona-Solidaritätsgruppen machen schon jetzt gute Arbeit und könnten auch die akute Krise überstehen! Genealogisch gab es ja bereits 2015 eine große städtische und kommunale Solidarität, die Willkommensbewegung war ja genau auf dieser Ebene organisiert. Der Rückenwind für die Solidarische-Städte-Bewegung kam schlussendlich aus diesen lokalen Bewegungen. Es gab damals die Erfahrung, dass es auf der Ebene des Viertels, der Stadt und der kommunalen Politik emanzipatorische Möglichkeiten gibt – Möglichkeiten praktischer Solidarität, aus denen Politik werden kann. Ich glaube, dass viele der Corona-Solidaritätsgruppen auf diesen Strukturen beruhen oder zumindest aus diesen Erfahrungen heraus organisiert wurden. Das ist ja ein Klassiker: Am Anfang der solidarischen Kliniken in Griechenland ging es zunächst um die Versorgung der Geflüchteten. Nach und nach wurden die Kliniken jedoch in der Krise generell für Opfer des kaputt gesparten Staats geöffnet. Das ist ein üblicher Prozess, der auch in der Solidarity City-Diskussion wichtig war: Man fängt mit den Rändern an und am Ende öffnet es sich für alle. Vielleicht war das heute Vielen gar nicht unbedingt bewusst, dass sich die jetzigen Bewegungen an 2015 anlehnen, aber der lange Sommer der Solidarität mit Geflüchteten ist als gemeinsame Erfahrung vorhanden und damit implizit auch in den Köpfen. Dass es den Glauben gibt, dass man gemeinschaftlich Dinge bewältigen kann, dass man aufeinander Acht gibt und sich organisiert, gerade auch in Ausnahmesituationen – das ist unglaublich wichtig gerade und das wird überall wieder gelernt und vertieft.

Aber anders als 2015 gibt es erstmal keine automatische Öffnung nach außen, hin zu Neuankommenden und „Fremden“. Da ist es wichtig, jetzt nicht in eine politisch blinde Solidaritätsromantik zu verfallen und sich stattdessen explizit gegen jede nationalistische Schließung und Grenzziehung zu wenden, die durchaus mit bestimmten Formen von Solidarität kompatibel ist. Am Ende kommt man um diese politische Fragen nicht herum.


Interview

Janika Kuge ist Aktivistin für Solidarity Cities in Freiburg, forscht zu Sanctuary Cities in den USA und ist Teil der Común-Redaktion.


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„Solidarische Städte in Europa“ zum Download: rosalux.de/publikation/id/40039/solidarische-staedte-in-europa


Foto

Transparent am Sitz der Stadtverwaltung von Madrid (2017) | Foto: Maria Teneva (Unsplash)