,,Eyes On The Street“ – Raum und Sozialität

Die Aktivistin, Journalistin und Stadtforscherin Jane Jacobs

In New York wird Jane Jacobs als Heldin verehrt. Mit ihrer Kampagne gegen den Ausbau der Fifth Avenue in eine vierspurige Stadtautobahn, der auch der beliebte Washington Square Park zum Opfer gefallen wäre, überzeugte sie Ende der 1950er Jahre die New Yorker Öffentlichkeit davon, dass dieser Eingriff ein Verbrechen an der Stadt und ihren Bewohner*innen sei. Sie setzte sich damit gegen die Planungen des Stadtplaners Robert Moses durch, der viele Jahrzehnte die Veränderungen im städtebaulichen Gesicht New Yorks bestimmt hatte. An Jane Jacobs’ organisiertem Bürger*innenprotest scheiterten auch Moses’ Pläne für den Abriss ganzer Häuserblocks in Jacobs’ Wohnviertel Greenwich Village, die als „verslumt“ galten.

Mit Jane Jacobs’ Engagement gegen Kahlschlagsanierungen und gegen eine autogerechte Stadt wurde zum ersten Mal eine Kritik an Großprojekten des Stadtumbaus wahrnehmbar, wie sie von den Stadtplanern der Moderne, zum Beispiel in Le Corbusiers „Plan Voisin“ und der „Charta von Athen“, gefordert wurden. Ihrem städtebaulichen Leitbild der funktionalen Trennung folgend wollten die fortschrittsgläubigen Stadtplaner gewachsene städtische Strukturen mit brachialer Gewalt in ein Nebeneinander von Arbeit, Wohnen, Konsum und Freizeit zerstückeln.

1961 erschien Jane Jacobs’ Streitschrift „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“. Das sehr emotional verfasste Buch – ein Mix aus Literatur, Journalismus und Soziologie – wurde eine Bestseller. Jane Jacobs reflektiert darin persönliche Beobachtungen in Greenwich Village und ähnlichen Stadträumen wie dem Bostoner North End. Sie spricht sich dagegen aus, die Stadt lediglich als funktionales System zu begreifen und richtet ihren Blick auf das Alltägliche, auf die zufälligen Begegnungen und die produktive Unordnung gemischter Nutzungsstrukturen eines Stadtteils. Sie entdeckt in den lebendigen gewachsenen Nachbarschaften, in den informellen Beziehungen und Strukturen eine Resilienz gegen Verwahrlosung und Kriminalität. Jane Jacobs feiert in ihrem Buch das Leben auf der Straße: Die intensivere Nutzung öffentlicher Räume bewirke eine positive soziale Kontrolle und steigere das Vertrauen der Bewohner*innen.

Jane Jacobs‘ Vorgehen war von der Theorie und Praxis der »Chicago School of Sociology« und des Soziologen Saul Alinsky inspiriert, die schon in den 1930er und 1940er Jahren in Chicago die Methode der teilnehmenden Beobachtung entwickelt hatten und sich mit Community Organizing beschäftigten. Jacobs‘ Skepsis gegenüber Top-Down-Strategien und administrativer Planung drückte sich in ihren Plädoyers für nichtlineare ergebnisoffene Entwicklungen aus, in deren Planung die Bewohner*innen einbezogen werden müssen. Sie entwickelte die Vorstellung, dass sich direkte Demokratie am besten aus Nachbarschaften entwickeln lasse, die sich in Bürger*innenversammlungen organisieren und dann ein stadtweites Netzwerk lokaler „Zellen“ bilden.

Die Planungseliten kritisierten Jane Jacobs’ teilweise polemische Ausführungen als „unwissenschaftlich“ und diffamierten sie als „Hausfrau“, die sich nicht einzumischen habe, weil ihr der akademischen Hintergrund fehle. Ihre Kritik an der orthodoxen Stadtplanung und ihre Popularität ließen sich jedoch nicht aufhalten. Ihr Buch und ihr Aktivismus fielen in die Zeit der entstehenden Studierenden- und der Bürgerrechtsbewegung, die mit ihrer Zurückweisung von Autoritäten und den Forderungen nach Mit- und Selbstbestimmung politische Veränderungen erzwangen.

Jane Jacobs wurde auch international wahrgenommen. In Deutschland griffen Städtebaukritiker wie Alexander Mitscherlich („Die Unwirtlichkeit unserer Städte; Thesen zur Stadt der Zukunft“) oder Wolf Jobst Siedler die Thesen von Jane Jacobs auf. Hier kam spätestens Ende der 1970er Jahre die „fordistische Stadterneuerung“ ins Stolpern, indem etwa die Hausbesetzerbewegungen im Frankfurter Westend und in Berlin-Kreuzberg großflächige Kahlschlagsanierungen stoppten.

1968 verließ Jane Jacobs mit ihrem Mann, dem Architekten Robert H. Jacobs, und ihren drei Kindern New York – aus Empörung über den Vietnamkrieg und aus familiären Gründen. Sie wanderte nach Toronto (Kanada) aus und unterstützte dort mit ihrer Prominenz die Verhinderung eines ähnlichen Stadtautobahnprojekts wie in New York – mit Erfolg. 2006 starb Jane Jacobs mit 89 Jahren.

Jane Jacobs ist heute eine der bedeutensten US-amerikanischen Persönlichkeiten des stadtpolitischen Aktivismus und der Stadtforschung. Mit ihrer Kritik modernistischer Planungsexzesse und ihren kleinräumlichen Beobachtungen etablierte sie ein neues Verständnis städtischer Entwicklungsdynamiken und urbaner Mikropolitiken, das auch heute noch unsere stadtpolitische Praxis inspirieren kann.


Autor

Rainer Midlaszewski ist stadtpolitisch im Ruhrgebiet aktiv und Teil der Común-Redaktion

„Eyes On The Street“ ist ein Slogan von Jane Jacobs mit dem sie die Herstellung einer positiven sozialen Kontrolle durch die extensive Nutzung des öffentlichen Raums beschreibt.


Weiterlesen

Jacobs, Jane (1963): »Tod und Leben großer amerikanischer Städte«, Ullstein Verlag, Berlin/Frankfurt am Main/Wien (nur noch antiquarisch oder als Reprint erhältlich)

Sennett, Richard (2018): »Die offene Stadt – Eine Ethik des Bauens und Bewohnens«, Hanser Berlin

Schubert, Dirk (2011): »50 Jahre Jane Jacobs’ Tod und Leben grosser amerikanischer Städte: Paradigmenwechsel in der Stadtplanung auf dem Weg zum erhaltenden Stadtumbau«, in: Forum Stadt 1/2011


Illustration

© Rainer Midlaszewski unter Verwendung von Fotos von Luke Stackpoole und Vasco Carvalho (Unsplash)