Cornern

Verwahrlosung des öffentlichen Raums oder eine neue Form von „Reclaim the Streets“? Am Trinken auf Straßen und Plätzen, neuerdings „Cornern“ genannt, scheiden sich seit einigen Jahren die Geister. Dabei ist es eine Praxis von Kommunikation und Selbstermächtigung, die eine lange Geschichte hat.

Kaum war der fast siebenmonatige Lockdown vorüber, kehrten sie zurück: die „Cornerer“. In der Hamburger Schanze waren es am letzten Mai-Wochenende Tausende, die sich auf der Straße, in kleinen Parks, an Kiosken trafen und tranken – sie „cornerten“, wie es seit einigen Jahren auch hierzulande genannt wird. Dass das enge Beieinanderstehen während einer Pandemie eine schlaue Idee ist, kann man aus guten Gründen bezweifeln. Verständlich war es aber allemal, dass vor allem junge Leute nach Monaten des Zuhauseabhängens und der Ausgangssperren raus wollten in den öffentlichen Raum, in die urbane Gemengelage. Die Stadt Hamburg hatte kein Verständnis und ließ die Schanze mit mehreren Hundertschaften räumen. Kurze Zeit später richtete der Senat über 30 sogenannte Hotspots im Hamburger Stadtgebiet ein, in denen fortan das öffentliche Trinken ab 14 Uhr untersagt war, später sogar zusätzlich das „Mitführen“ von alkoholischen Getränken. Inzwischen sind die Verbote an diesen Hotspots durch eigens aufgestellte Verbotsschilder institutionalisiert.

Man sollte sich jedoch nicht täuschen: Die neuen Prohibitionszonen sind keine Ad-hoc-Idee der Pandemiepolitik. Tatsächlich hatten die Hamburger Bürgerschaftsfraktionen von SPD und Grünen 2018 in einem Antrag genau solche Zonen bereits als mögliche Lösung des „Corner-Problems“ benannt, über das seinerzeit heftig debattiert wurde. In der Debatte konnte man den Eindruck gewinnen, „Cornern“ sei ein neues Phänomen, das in den 2010er Jahren über viele Städte, nicht nur Hamburg, hereingebrochen war. Einige sahen darin eine Verwahrlosung des öffentlichen Raums, manche eine neue Variante von „Reclaim the Streets“, wieder andere das Ergebnis einer sich ausweitenden Prekarisierung, die nur den Griff zum billigen Dosenbier vom Kiosk übrig lasse. Keine dieser Deutungen ist ganz falsch, aber sie greifen zu kurz. „Cornern“ ist mitnichten ein neues Phänomen aus dem frühen 21. Jahrhundert, doch zugleich ist es in seiner jüngsten Ausprägung auch eine Erscheinung des neoliberalen Urbanismus der vergangenen drei Jahrzehnte.

Der Erste, der das regelmäßige Sichtreffen an Straßenecken wissenschaftlich untersuchte, war der US-Soziologe Kyle Whyte. Er betrieb Ende der 1930er Jahre über vier Jahre Feldforschung im Bostoner North End, einem Quartier mit überwiegend italienischstämmigen Migrant*innen. „Die Corner Boys sind Gruppen von jungen Männern, die ihre sozialen Aktivitäten auf konkrete Straßenecken konzentrieren“, schrieb Whyte 1943 in seinem Buch »Street Corner Society«. Diese jungen Männer gehörten zur untersten sozialen Schicht, waren häufig arbeitslos oder nur unregelmäßig beschäftigt und bildeten Gangs, in denen auch Jobs vermittelt wurden. Whyte zeigte, dass es sich nicht einfach um orientierungslose junge Leute handelte, sondern um eine eigenständige selbstbewusste Formation. Vom Bostoner North End führt eine Linie zur beginnenden Hiphop-Culture im New York City der 1970er Jahre. An Straßenecken in der Bronx versammelten die ersten Soundsystems ihr Publikum für Cuts und Samples, nutzten so den öffentlichen Raum als Bühne, als Floor.

Das öffentliche Trinken in Straßen wiederum hat seine eigene Geschichte. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden im Ruhrgebiet und im Bergischen Land die sogenannten Wasserhallen. Sie versorgten die Arbeiter*innen zunächst mit Mineralwasser, später auch mit Bier. Nach der Schicht „anne Bude gehen“ wurde zu einem Bestandteil des Feierabends. Auch in Köln, Frankfurt, Berlin und anderen Gegenden nördlich des Mains etablierten sich Büdchen, Trinkhallen und Kioske als Orte gemeinsamen Trinkens. Das war nicht unbedingt Ausdruck von Renitenz, sondern einer eigenen proletarischen Kultur, die mit dem Ideal eines bürgerlichen, gesitteten Lebens nichts gemein hatte. Eine renitente Haltung gesellte sich zum öffentlichen Trinken ab Mitte der 1960er, als sich „Gammler“ etwa in Westberlin an der Gedächtniskirche zum Bier trafen und desillusionierte junge Leute anzogen, wie etwa das spätere RAF-Mitglied Bommi Baumann, der diese Zusammenkünfte in seiner Autobiografie festgehalten hat. Noch einmal zehn Jahr später verwandelte die neue Punk-Kultur das öffentliche Trinken in eine bewusste Provokation der Vertreter*innen bürgerlicher Normen.

„Soziologisch gesehen ist Trinken zuallererst eine Praxis von Kommunikation“, schreiben die Soziologen Daniel Briggs, Ivan Gololobov und Aimar Ventsel, die das Trinken Jugendlicher im öffentlichen Raum in Großbritannien, Russland und Ostdeutschland untersucht haben. Dass es speziell in West- und Nordeuropa seit den 1980ern schichtübergreifend populärer wurde, hat auch mit dem sich damals ausweitenden Mittelmeertourismus zu tun. Gemeinsames, allerdings maßvolles Trinken auf Plätzen gehört zwischen Portugal und Griechenland seit langem zur Alltagskultur. Die jungen Reisenden mediterranisierten gewissermaßen die eigenen west- und nordeuropäischen Trinktraditionen, indem sie Plätze und Straßenecken mit dem Bier in der Hand zu bevölkern begannen – ohne jedoch das Maßvolle des „Mediterranean Drinking Style“, wie es in der Stadtgeographie heißt, zu übernehmen.

Diese Entwicklung fällt zusammen mit einer einschneidenden Veränderung des Urbanismus seit den späten 1980ern. „Viele Städte erfinden sich als Konsumorte neu“, stellen die britischen Geograph*innen Mark Jayne, Sarah Holloway und Gill Valentine fest. Der Alkoholkonsum wird nun Teil einer „Entertainment Economy“, die in den 1970ern vernachlässigte Innenstädte wiederbeleben soll. Dieses Stadtentwicklungsprogramm ist von Anfang an widersprüchlich: Auf der einen Seite werden die Ladenschlusszeiten dereguliert, was Alkohol auch abseits der Gastronomie bis spät in die Nacht verfügbar macht – und das „Cornern“ fördert. Andererseits beginnt der neoliberale Urbanismus den öffentlichen Raum zu „domestizieren“, so Jayne, Holloway und Gill. Die Leute dürfen sich amüsieren und auch volllaufen lassen, aber nur in den ausgewiesenen Locations der „Entertainment Economy“. Von der bürgerlichen Norm abweichendes Verhalten wie Grölen und öffentlicher Sex wird nicht geduldet. Vor allem in Großbritannien folgen Zonen mit Trinkverbot und Platzverweise. Der deutschsprachige Raum hinkt hier zunächst hinterher, nur vereinzelt gibt es eine Regulierung, etwa in den von den angelsächsischen Ländern übernommenen „Business Improvement Districts“, Geschäftszonen, in denen der öffentliche Raum teilprivatisiert ist.

In Hamburg-St. Pauli spitzt sich der Konflikt zwischen einem zum Mainstream gewordenen „Cornern“ und der neoliberal geprägten „Entertainment Economy“ besonders zu. Auf der einen Seite wird die Reeperbahn seit Beginn der 2010er Jahre als „Europas größtes Vergnügungsviertel“ vermarktet, das bald jährlich 25 bis 30 Millionen Besucher*innen anzieht. 2015 wird sie gar zum „Business Improvement District“ erklärt. Auf der anderen Seite wird das „Cornern“ zum Massenphänomen: Tausende zieht es nicht in die Systemgastronomie und ein vollvermarktetes Kiez-Disneyland, sondern in das nächtliche Abenteuer auf Plätzen und Straßenkreuzungen in angrenzenden Quartieren. Das über soziale Medien organisierte Schwarmverhalten beim Ausgehen verstärkt dies noch.

Der Konflikt eskaliert schließlich im Juli 2017, wenige Tage vor dem Hamburger G20-Gipfel. Aktivist*innen haben zum „Hard Cornern“ aufgerufen. An zahlreichen Plätzen verwandelt sich das „Cornern“ in einen politischen Protest auch gegen die fortschreitende Zonierung der Innenstädte, die im G20-Sicherheitskonzept der Hamburger Polizei in einem flächendeckenden Versammlungsverbot gipfelt. Weil anders als etwa in britischen Städten das Trinken im öffentlichen Raum noch nicht verboten ist, übernimmt das „Cornern“ nun die Funktion der politischen Versammlung. Die Polizei beantwortet das „Hard Cornern“ mit dem Einsatz von Wasserwerfern.

Das „Cornern“ wird zwar nach dem G20-Gipfel nicht verboten, die Auseinandersetzung darüber ebbt aber nicht ab. Anfang 2018 gerät die Trinkhallentradition in die Kritik. Die Kioske gelten nun als diejenigen, die die Ordnung im öffentlichen Raum gefährden. In einer medialen Kampagne fordern Kiezgastronom*innen die Politik auf, Kiosken den abendlichen Verkauf von Alkohol zu untersagen. Dabei schrecken einige auch nicht vor rassistisch grundierten Bildern zurück. Kioske würden sich „wie Kakerlaken“ vermehren, sagt ein Clubbetreiber der Lokalpresse. Eine Aussage, die angesichts der Tatsache, dass Kioske heutzutage in vielen Städten ein migrantisch geprägtes Gewerbe sind, inakzeptabel ist.

Aber auch die Verteidiger*innen der „Corner-Kultur“ liegen daneben, wenn sie im öffentlichen Trinken ausschließlich einen stillen Protest marginalisierter Menschen sehen. Wie eine Feldstudie der Fachhochschule in der Akademie der Polizei Hamburg 2018 zeigt, lässt sich der soziale Hintergrund des „Corner-Publikums“ nicht verallgemeinern. Vor allem am Neuen Pferdemarkt in St. Pauli, der in Hamburg längst synonym mit der „Corner“ ist, haben fast 90 Prozent der Befragten Abitur oder einen Hochschulabschluss. Billige Getränke am Kiosk sind auch nicht der wesentliche Grund für das „Cornern“. Die Hälfte aller an den drei untersuchten Orten Befragten – neben Neuem Pferdemarkt noch die Straße Hamburger Berg in St. Pauli und der Hansaplatz in St. Georg – nennt „Freunde treffen“ als Hauptmotiv.

Die Pandemie hat dem nun (vorläufig) ein Ende gesetzt. Die Recht-auf-Stadt-Bewegung sollte alles dafür tun, dass der domestizierte öffentliche Raum in der Post-Pandemie-Stadt wieder zurückgewonnen wird. Man muss das „Cornern“ nicht feiern, aber man sollte dem neoliberalen Urbanismus die Kriminalisierung des öffentlichen Trinkens nicht durchgehen lassen. Es ist eine kulturelle Praxis mit einer langen Geschichte, die den sozialen Zusammenhalt der Stadtgesellschaft fördern kann – wenn denn die „Cornerer“ die Lektion des „Mediterranean Drinking Style“ zu Ende lernen.


Autor

Niels Boeing ist Journalist, Buchautor und Aktivist im Hamburger Netzwerk Recht auf Stadt. Er lebt in St. Pauli, wo er schon Ende der 1990er an der Ecke Beim Grünen Jäger/Neuer Pferdemarkt „gecornert“ hat. 2020 hat er das »barkombinat Hamburg« mitgegründet.


Weiterlesen

Daniel Briggs, Ivan Gololobov und Aimar Ventsel: Ethnographic Research Among Drinking Youth Cultures: Reflections from Observing Participants, Folklore Vol. 61, S. 157–176, 2015

Ulrike Burgwinkel: Eine kleine Sozialgeschichte der Trinkhalle, Deutschlandfunk, 15.09.2016

Jakob Demant und Sara Landolt: Youth Drinking in Public Places: The Production of Drinking Spaces in and Outside Nightlife Areas, Urban Studies 15 (1), S. 170–184, 2014

Mark Jayne, Sarah Holloway und Gill Valentine: Drunk and disorderly: alcohol, urban life and public space, Progress in Human Geography 30 (4) S. 451–468, 2006

Stefanie Kemme und Anabel Taefi: Cornern in Hamburg 2018: eine Untersuchung zu Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, Fachhochschule in der Akademie der Polizei Hamburg, 2018

Amy Pennay, Elizabeth Manton und Michael Savic: Geographies of Exclusion: Street drinking, gentrification and contests over public space, International Journal of Drug Policy 25 (6), S. 1084–1093, 2014

Kyle Whyte: Street Corner Society, 1943


Bild

„Hard Cornern“ im Hamburger Schanzenviertel während des G20-Gipfels im Juli 2017 / Illustration: Rainer Midlaszewski auf Basis eines Fotos von Olaf Sobczak