Der subjektive Faktor

Ein Gespräch mit Sandy Kaltenborn, Mitbegründer der Mietergemeinschaft »Kotti & Co«, über Ermächtigungen, Grenzen und Brüche in Organisierungsprozessen.

RM: Du hast 2011 die Mietergemeinschaft »Kotti & Co« mit ins Leben gerufen und bist über elf Jahre dort aktiv gewesen. Inzwischen hast du dich aus der Kerngruppe herausgezogen und bist nur noch im Projekt begleitenden Verein »Kotti-Coop« aktiv. Ihr habt viel erreicht: Das Land Berlin hat die Häuser am Kottbusser Tor zurückgekauft und die Mieten im sozialen Wohnungsbau wurden gedeckelt. »Kotti & Co« gilt als Modell für eine erfolgreiche Mieter:innenorganisierung und hat eine überregionale Strahlkraft. Aber »Kotti & Co« ist noch nicht zu Ende. Was hat zu deinem Rückzug geführt?

SK: Das sind zum Teil ganz persönliche Gründe. Zum einen war es die Entscheidung, mich verstärkt wieder meiner Profession, dem Kommunikationsdesign, zu widmen. Da ist viel an Reflexion liegen geblieben. Die gestalterische Arbeit im Kontext der stadtpolitischen Bewegungen und bei »Kotti & Co« hat eine relativ große Rolle für mich gespielt. Dennoch ist es etwas anderes, jenseits von so einem Konfliktfeld, gestalterisch zu arbeiten. Und zum anderen ist auch ein Zyklus zu Ende gegangen: Nach der Wahl 2021 und der Fortsetzung von Rot-Rot-Grün – aber unter der neuen Regierung Giffey – war mir klar, dass alles nicht besser wird. Wir hatten ein paar Jahre, in denen die Linken die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung innehatten, in denen mehr möglich war als je mit der SPD. 2011 waren wir angetreten mit der Kernforderung Mietenstopp und Rekommunalisierung der von Thilo Sarrazin (SPD) damals verscherbelten Häuser. Beides haben wir erreicht. Wenngleich wir nicht erreicht haben, dass die Gesetze in Bezug auf den sozialen Wohnungsbau und die Verträge wirklich reformiert wurden. Der Druck von »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« und natürlich unser Druck über einen Zeitraum von zwölf Jahren haben dazu geführt, dass die Häuser vom Land Berlin kurz vor den Wahlen zurückgekauft wurden. Es war also eine Gemengelage aus persönlichen Gründen und politischen Rahmenbedingungen, die dazu geführt hat, dass ich mich nun erstmal wieder dem Design zuwende.

RM: Du warst ein relativ wichtiger Akteur bei »Kotti & Co«. Du hast die Gruppe mit aufgebaut und oft nach außen repräsentiert. Was hat das für Auswirkungen, wenn jemand wie du aussteigt?

SK: Eigentlich muss das »Kotti & Co« beantworten. Aber ja, das hat Auswirkungen. Da ich jemand war, der sowohl mit einer sehr langen gesellschaftspolitischen als auch mit einer gestalterischen Praxis einen Pool an Erfahrungen eingebracht hat, der viele Kontakte in der Politik, Kontakt zu anderen Initiativen, zu Akteur:innen in der Nachbar:innenschaft aufgebaut und über einen sehr langen Zeitraum gehalten hat, geht mit meinem Abgang natürlich praktisches und auch informelles Wissen verloren. Wir waren ja keine Gruppe, die gesagt hat, alle sollen alles können, sondern alle sollen alles dürfen – und auch tun, wenn sie Lust darauf haben. Ansonsten machen alle das, worin sie gut sind. Und diese Arbeitsteilung war sehr effektiv. Aber sie war nicht in dem Sinne nachhaltig, dass die Lücke von mir oder von anderen, die in den letzten Jahren gegangen sind, so einfach geschlossen werden konnte.

»Kotti & Co« ist keine „normale“ Polit-Gruppe, die sich alle zwei Wochen einmal trifft, sondern eine nachbarschaftliche Organisierung, die sozial anders funktioniert als klassische Gruppen und Initiativen. Wir sind in erster Linie Nachbar:innen, das heißt, ich sehe einen großen Teil der Mitstreiter:innen im Fahrstuhl, jeden Tag. Und das bleibt auch so. Aber die Frage, wie man nachhaltig Wissen vermittelt und diese Strukturen verstetigt, die haben wir, glaube ich, nicht wirklich umfassend beantwortet. Wir haben viele Sachen aufgebaut, die auch nachhaltig Bestand haben – ich will das gar nicht kleinreden –, aber ich denke, es gibt schon andere Sachen, von denen ich im Nachhinein sagen würde, man hätte sie anders angehen sollen.

RM: Jetzt sind Organisierungsprozesse immer auch Prozesse des Lernens und der Ermächtigung. In der Praxis zeigt sich jedoch oft, dass Wissen und Ressourcen ungleich verteilt bleiben, auch wenn eine Gruppe wie »Kotti & Co« über einen sehr langen Zeitraum einen gemeinsamen Weg geht. Zu unterschiedlich bleiben die Voraussetzungen, Prozesse zu steuern und strategisch weiterzuentwickeln. Teilst du diese Erfahrung?

SK: Ja, das teile ich so. Es wäre naiv zu glauben, dass man in ein paar Jahren das nivelliert, was über Jahrzehnte durch strukturelle Ungleichheiten in die Menschen eingeschrieben wurde, und es einfach überwinden kann. Dennoch sind bei »Kotti & Co« alle über sich hinausgewachsen – sind andere geworden als die, die sie waren, als wir vor elf, zwölf Jahren in den Konflikt hineingegangen sind. Wir alle haben viel gelernt. Nicht nur auf der politischen Organisationsebene, sondern eigentlich in allen Bereichen des Lebens.

„Dieses organische Wissen kommt in Situationen, in denen man es nicht erwartet, an die Oberfläche: beim Aufräumen, bei einer Tasse Tee, im Gespräch über die Familie, in den Zwischenräumen.“

Bei uns stand sehr früh im Vordergrund, dass es auch um ein Wissen geht, das nicht gesellschaftlich repräsentiert ist. Also das Wissen der Subalternen, das der Arbeiter:innenschaft, das migrantische Wissen, die Erfahrung von Ausgrenzung und Rassismus. Insofern war die Frage des Lernens auch nie eine Einbahnstraße. Man sollte nicht annehmen, dass Wissensproduktion nur in dazu bestimmten Räumen passiert, und auch hinterfragen, was für ein Wissen produziert und somit sichtbar wird. Wissen tritt nicht nur in politischen Settings hervor, nicht nur bei Treffen oder einer Veranstaltung. Dieses organische Wissen kommt in Situationen, in denen man es nicht erwartet, an die Oberfläche: Beim Aufräumen, bei einer Tasse Tee, im Gespräch über die Familie, in den Zwischenräumen. Wir haben sehr früh gemerkt, dass wir sehr viele unterschiedliche Sachen können und ganz unterschiedliche Sachen wissen.

Bei uns war es oft so, dass wir uns produktiv verunsichert haben und darüber überrascht waren, wie sehr sich jeder einzelne Mensch, egal wie gut er sich ausdrückt, präsentieren konnte und wie viel er an Wissen mitbringt. Klar gibt es diese strukturellen Wissenshierarchien. Deshalb muss man mit einer gewissen Demut, mit einer gewissen Aufmerksamkeit in einen Prozess der kollektiven Wissensproduktion gehen.

RM: Wir haben selbst gerade ein Organizing-Projekt mit Mieter:innen in einer Großwohnsiedlung in Bochum begonnen. Im Vorfeld haben wir sehr genau überlegt, welche Rolle wir dabei spielen. Dass wir die Bewohner:innen zusammenbringen, aktivieren und sie unterstützend begleiten möchten, aber sie diejenigen sind, die die Themen bestimmen und den Protest repräsentieren. Bei einem ersten Pressetermin wollte der Journalist dann immer mit uns sprechen, weil wir natürlich viel sicherer im Auftreten waren und fokussierter die Probleme und mögliche Lösungen benennen konnten. Wir mussten den richtig zu den Mieter:innen hinschieben und sagen: „Hier, das sind die Betroffenen, die wohnen in den verschimmelten Wohnungen, das sind die Stimmen, um die es geht.“ 

Was ich sagen will, ist: Wenn du eine Kampagne startest, bist du bestimmten strukturellen Zwängen unterworfen, zum Beispiel dem, wie Medien funktionieren. Und wer im Umgang mit Medien ohne Erfahrung ist, geht darin ganz schnell unter, ist überfordert.

SK: Vielleicht erstmal dazu was Generelles: Ich glaube, es gibt einen Widerspruch zwischen dem Aufbau breiter und vor allem nachhaltiger Strukturen und einer politischen Dringlichkeit. Beim Ersten ist Raum zum Lernen. Beim Zweiten diktiert der politische Konflikt dir teilweise ein Vorgehen. Es ist nicht immer leicht, da die richtige Balance zu finden.

Pressegespräche haben wir schon ein bisschen trainiert. Ich war Pressesprecher und es gab noch eine zweite Pressesprecherin. Wenn andere Leute mit den Medien gesprochen haben, wurden vorher die Köpfe zusammengesteckt und es wurde gesagt: Diese drei Punkte sind wichtig, versucht die mal irgendwie unterzubringen. Wir haben hunderte Mediengespräche geführt. Wenn dann mal ein, zwei schiefgingen, war das jetzt auch nicht so schlimm, bei der Masse, die wir an Output hatten. Das war auch ein Privileg unserer Initiative, dass wir wirklich sehr viel Öffentlichkeit generieren konnten.

Bei uns war es dann manchmal ein bisschen andersherum, nämlich so, dass die Presse nach der türkischen Familie, die arm ist und verdrängt wird, gefragt hat. Das haben wir fast immer zurückgewiesen. Also diese Zuschreibungen – da sind die Academics und da sind die normalen Nachbar:innen. Die Presse ist ja so ein Tagesgeschäft, die wollen schnell ihre authentischen Betroffenen-O-Töne einsammeln und dann noch mal mit jemandem sprechen, der eher einen akademischen Hintergrund hat und der das dann einordnet. Wir haben gesagt: „Nee, nicht so, sondern bleib mal auf eine Tasse Tee bei uns am Gecekondu, nimm dir Zeit.“ Und dann fangen die Presseleute irgendwann an, von ihrer eigenen Mietsituation zu erzählen oder von ihrer Tochter, die in Berlin studieren will, aber keine Wohnung findet. Also wir haben versucht, dieses klassische Setting eines Pressegesprächs zu unterlaufen und die Medienleute auch ganz persönlich mit einzubeziehen.

Aber in jedem Fall ist es auch wichtig, dass Stimmen und Körper in den Medien sichtbar werden, die sonst nicht vorkommen. Man darf nicht vergessen, dass die Marginalisierten, die Subalternen, mit ihren Geschichten eben kaum in den Medien vorkommen. Und als die Presse nach unserer Platzbesetzung 2012 hier aufschlug, war es im doppelten Sinne bedeutsam, dass die Nachbar:innen ihre Lebensgeschichten erzählen konnten, ihre Arbeitsbiografien. Diese Geschichten von Betroffenen waren genauso wichtig wie die Kommunikation unserer politischen Forderungen.

„Es gibt Momente, in denen ich mich mit meinen Nachbar:innen viel enger, vertrauter und klarer auf einer Ebene sehe als zum Beispiel mit Freund:innen aus dem akademischen Betrieb oder aus der aktivistischen Welt.“

RM: Jetzt gibt es innerhalb so einer Initiative wie »Kotti & Co« ja immer auch Momente, in denen man die nächsten Schritte bestimmen muss, wie strategisch, taktisch weiter vorgegangen werden soll. Ist es gelungen, auch an diesen Stellen alle Leute mit einzubeziehen? Hier, würde ich vermuten, wirken sich die Erfahrungs- und Wissensunterschiede am deutlichsten aus.

SK: Um ehrlich zu sein, ich denke gar nicht in solchen Kategorien wie „Die Leute“. Ich sehe mich nicht anders als meine Nachbar:innen. Ich bin am Anfang sehr stark von außen adressiert worden, von politischen Aktivist:innen, von den Medien oder von Vertreter:innen aus dem akademischen Bereich. Mir wurde von außen so eine singuläre Rolle zugeschrieben, die ich aber zurückgewiesen habe. Nicht aus taktischen Gründen, sondern weil ich sie wirklich nicht so denke. Es gibt Momente, in denen ich mich mit meinen Nachbar:innen viel enger, vertrauter und klarer auf einer Ebene sehe als zum Beispiel mit Freund:innen aus dem akademischen Betrieb oder aus der aktivistischen Welt. Hier bin ich erstmal Nachbar und deswegen gibt es dieses „Die“ und „Ich“ für mich da drin nicht. Ich verstehe schon, was du meinst, aber ich glaube, man muss dieses Denken hinterfragen und eine andere Perspektive einnehmen. Wir alle sind mehr als eine Person.

RM: Meine Frage zielt darauf ab, ob es nicht Momente gibt, in denen angesichts der bestehenden Wissensunterschiede sowas wie Führung sinnvoll sein kann. Also aus einer bestimmten Erfahrung heraus – und diese Erfahrung haben eben nicht alle – ist dieses oder jenes jetzt der strategisch richtige Schritt.

SK: Ja, das stimmt. Wenn man schon länger gesellschaftspolitisch aktiv ist, bringt man natürlich den größeren Werkzeugkoffer mit. Aber man sollte nicht das Gewiefte und die Intelligenz derjenigen unterschätzen, die diese Erfahrungen so vielleicht erstmal nicht haben. Oft war es so, dass die besten Protestideen oder taktischen Schritte von Leuten kamen, die kaum politische Erfahrung hatten. Unbescholtenheit und auch Naivität können manchmal sehr produktiv werden. Andersrum, würde ich sagen, sollte man auch keine Hemmung haben, wenn man von etwas überzeugt ist, zu führen. Ich habe kein Problem, eine Führungsrolle einzunehmen. Auch in einem Team, wo erstmal alle gleichberechtigt sind, muss irgendwer den ersten Schritt machen.

Die Frage ist dann vielleicht eher, wie alle mitgenommen werden. Bei ganz konkreten, kleinteiligen Sachen ist das meistens einfacher. Bei größeren, komplexen strategischen Entscheidungen kommt es darauf an, wie so ein Entscheidungsprozess organisiert wird. Ich kann rückblickend sagen, dass wir am Anfang, in den ersten fünf, sechs Jahren, sehr, sehr viel mehr Zeit hatten auf unseren Treffen, um ausufernd alles zu erörtern, Geschichten zu erzählen, zuzuhören. Wenn du irgendwann dann 15 Punkte auf der Tagesordnung hast und die irgendwie durchkriegen willst, entsteht genau die problematische Struktur, in der nur diejenigen Raum bekommen, die sich in einem Diskussionsformat wie einem Plenum souverän bewegen können.

Man sollte sich nichts vormachen. Wir kämpfen hier ja auch gegen die jahrzehntelange Erfahrung von Marginalisierung, Demütigung und Ausgrenzung, die sich tief in die Biografien und in die Körper eingeschrieben hat. Die kann man nicht mit einer Reflexion, mit einem Gespräch einfach ändern. Die Selbstbilder und Unsicherheiten, die dort entstanden sind, halten die Menschen in einem Raum fest, den Leute mit einem akademischen, mittelständischen Hintergrund so nicht kennen. Dort herauszutreten, das ist ein Riesenschritt. Aber es geht. Empowerment ist etwas Schönes und für ein demokratisches Miteinander wichtiger denn je.

Wenn ich mir aber manche der aktuellen Organizing-Ansätze in der stadtpolitischen Bewegung ansehe, ist da, glaube ich, sehr viel gut gemeinte Naivität am Start. Da wird gedacht: Wir gehen jetzt dahin und organisieren „die Leute“ politisch. Wir wollen hier eine Bewegung aufbauen, in der alle egalitär und gleich gebildet sind, und dann drehen wir die ganze Stadt auf den Kopf. Davon ist man aber meist weit entfernt. Da muss man wirklich klare Zielsetzungen formulieren. Was will man erreichen, was sind konkrete Verbesserungen, was ist realistisch? 

»Kotti & Co« hat sich über einen konkreten Konflikt zusammengefunden. Das ist immer einfacher als über ein voluntaristisches, ideales Ziel. Menschen, die die Erfahrung gemacht haben, dass die Gesellschaft ihnen nichts bietet, und zwar über Jahrzehnte, sehen zunächst auch keinen Grund dafür, einen Beitrag für eine Gemeinschaft zu leisten. Viele denken, dass sowas wie solidarische Grundwerte gesellschaftlich virulent sind. Dem ist nicht so, sondern das bisschen Geld, die Familie, die eigenen vier Wände sind für viele erstmal das Wichtigste. Und das ist auch nachvollziehbar.

„Ich finde, es ist kein Problem, von außen zu kommen und zu sagen: Ich bin hier anleitend, lehrend tätig und mein Job ist genau das.“

RM: Ich teile deine Einschätzung, dass es um ganz unmittelbare Verbesserungen gehen sollte, um die Durchsetzung konkreter Projekte oder um ihre Verhinderung. Und im lokalen Rahmen ist die Chance, eine Auseinandersetzung zu gewinnen, auch sehr viel größer. Das ist ja das Spannende an der stadtpolitischen Bewegung.

SK: Auch wenn du, anders als bei »Kotti & Co«, von außen irgendwo reingehst und sagst, dass du hier aktiv bist, dass du eine soziale Verbesserung erwirken und das mit den Leuten zusammen machen möchtest, sollte man nicht die Illusion haben, dass die Leute da auch mitmachen. Klar wollen viele eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Aber das heißt nicht, dass sie mit dir die nächsten zwei Jahre organisiert sein wollen. Hier macht es einen großen Unterschied, ob man von außen oder von innen kommt. Davon würde ich unterschiedliche Erwartungen und Ziele ableiten, was Organisierung leisten kann oder soll.

Ich finde, es ist kein Problem, von außen zu kommen und zu sagen: Ich bin hier anleitend, lehrend tätig und mein Job ist genau das. Aber ich bin nicht für die Social Fabric zuständig, also dafür, das soziale Gewebe zu bearbeiten. Das können auch andere machen. Vielleicht ergeben sich da Kollateraleffekte. Also man organisiert einen Protest und danach sitzen alle zusammen, trinken Tee und essen Kuchen. Da entstehen Freundschaften und es werden Geschichten erzählt. Das ist genauso wichtig, wie vor der Hausverwaltung zu stehen und zu sagen, dass die Mieten  zu hoch sind. Aber das muss nicht identisch sein.

RM: Es gibt in der stadtpolitischen Bewegung aktuell Ansätze, politische Gemeinwesenarbeit in feste Organisationsstrukturen zu überführen. Zum Beispiel experimentiert »Solidarisch in Gröpelingen« in Bremen mit einer Art Stadtteilgewerkschaft, um Verbindlichkeit und Kontinuität herzustellen. Ihr habt den Verein »Kotti Coop« gegründet.

SK: Wir haben über die Vereinsstruktur versucht, parallel auch eine Ökonomie in unsere Initiative einzuschreiben, um Nachhaltigkeit bei manchen Tätigkeiten oder Projekten zu gewährleisten. Es geht hier am Kotti für viele einfach ganz oft auch um Geld, um zu überleben.

Ich finde es okay, wenn Leute aus ihrem gesellschaftlichen Engagement ihre Profession machen. Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob du dich mit einer intrinsischen Motivation oder aus einer Professionalität in so einen Prozess begibst. Sich zu professionalisieren ist wichtig. Aber auch im Laientum, im Unstrukturierten gibt es Qualitäten. Darüber haben wir vorhin schon gesprochen. Professionalität ist eben nicht alles.

Bei uns ist es so, dass wir auf der einen Seite eine formale Struktur haben, das ist der Verein, und auf der anderen Seite die Initiative. Und als Drittes gibt es noch die „Social Fabric of the Neighborhood“, wenn man so will. Das sind drei verschiedene Formate. Und erst im Zusammenspiel und auch mit diesen unklaren Grenzen und Überlappungen von Praxen und Formalitäten hat das eine Dynamik entfaltet, mit der wir in unterschiedlichen Situationen sehr multipel oder vielschichtig agieren und reagieren konnten. Ob es aber prinzipiell richtig ist, sich auch eine formale Struktur zu geben oder nicht, das kann man, glaube ich, nicht pauschal beantworten.

RM: Ich bin da auch indifferent. Einerseits denke ich, feste Organisationsstrukturen sind hilfreich – es muss ja nicht gleich die leninistische Partei sein –, andererseits sind mein Stand- und Spielbein immer noch soziale Bewegungen.

SK: Vielleicht noch mal ein ganz grundsätzlicher Gedanke zur Frage der Organisierung. Ich glaube, der Preis für das Funktionieren jeder Gruppe, jedes Kollektivs ist die Unterwerfung des Individuums unter das Regelwerk der Gruppe. Das klingt jetzt vielleicht etwas hart. Aber jede Gruppe hat ihre Umgangs- und Betriebsformen: Benimmregeln, Sprechweisen oder Vorstellungen von einer Praxis. Oftmals merkt man das gar nicht. Das heißt, jedes Individuum lässt irgendwas außen vor, einen Teil seines Lebens, der nicht in die Gruppe eingebracht wird, obwohl es potenziell dem Anliegen der Gruppe dienlich sein könnte. Dahinter steckt auch die Frage, wie der Alltag und das Politische zusammenfließen.

RM: Also ich glaube nicht an die „Macht des Kollektivs“, die in der Linken so gerne beschworen wird. Ich halte das Kollektiv für einen Mythos. Ich finde da die Begriffe des Postoperaismus viel brauchbarer, der von einer Multitude spricht, in der das Singuläre nicht verloren ist. Vielleicht geht es heute in erster Linie darum, die Singularitäten miteinander zu vernetzen, und daraus entsteht dann eine Produktion des Gemeinsamen.

SK: Wenn du aus einer marxistischen Perspektive darauf schauen möchtest, dann, würde ich sagen, ist das Singuläre vielleicht sowas wie die Marx Brothers. Die bekommen jedenfalls mit dem Durcheinander, das sie produzieren, und ihren explodierenden Individualitäten ganz schön viel auf die Reihe. Und es macht Spaß. Das scheint mir mitunter eh das Wichtigste bei jedem Engagement zu sein. Egal wie groß die Probleme sind, die sich vor uns auftürmen.


Gesprächspartner

Sandy Kaltenborn hat 2011 die Mietergemeinschaft »Kotti & Co« mitgegründet und war dort über elf Jahre aktiv. Er wohnt am Kottbusser Tor und ist Kommunikationsdesigner (www.image-shift.net). Rainer Midlaszewski ist Teil der Común-Redaktion, im Bochumer Netzwerk »Stadt für Alle« aktiv und ebenfalls Kommunikationsdesigner (www.rm-grafikdesign.de). Beide verbindet eine lange Freundschaft.


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Kotti & Co
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Fotocollage

Rainer Midlaszewski (unter Verwendung eines Bildes der aus dem Fotoalbum der Mietergemeinschaft »Kotti & Co« und eigenem Material)


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