Der pakistanische Stadtsoziologe Arslan Waheed über die Planstädte Islamabad und Brasilia, deren Slums und den Entwicklungsdiskurs
Interview: Andreas J. Haller
Du arbeitest mit Bewohner:innen von Slums in Islamabad und Brasilia, wo die Stadtverwaltungen versuchen, soziale Probleme durch die Kontrolle der städtischen Armen zu bewältigen. Wie kam es zu dieser Form der kommunalen Verwaltung und welche Folgen hat sie?
Islamabad und Brasilia sind geplante Hauptstädte aus den 1960er Jahren. Damals gewann der Entwicklungsdiskurs überall auf der Welt an Fahrt. Er folgte einem wissenschaftlichen Modell zur Umgestaltung der gesamten sozialen Landschaft. Es ging um die technologischen Erfordernisse dieses Projekts. In Pakistan und Brasilien, aber auch international, wurden diese neuen Hauptstädte als moderne Städte und Materialisierung der Entwicklung gefeiert. Dieser Diskurs und die von ihm geschaffenen Kategorien wurden zu einem Instrument für den Staat und die Stadtverwaltungen.
Planer:innen wie Konstantinos Apostolos Doxiadis in Islamabad sowie Oscar Niemeyer und Lúcio Costa in Brasilia hatten unterschiedliche Vorstellungen von Stadtentwicklung, aber sie alle glaubten, dass sie die Macht haben, das Leben der Menschen zu verändern. Allerdings haben sie sich nicht wirklich um die historischen Erfahrungen und die sozialen Bedingungen gekümmert. Niemand wunderte sich darüber, dass auf den Hunderten von Seiten des Masterplans nichts über Wohnungen für die Tausenden von Bauarbeiter:innen stand. Man erwartete von ihnen, dass sie kommen, eine Stadt bauen und dann einfach wieder gehen, wenn sie sich selbst kein Grundstück leisten können. In diesen geplanten Städten haben verschiedene Bevölkerungsschichten ihre eigenen Wohnviertel. Aber die Arbeiter:innenklasse ist nicht offiziell untergebracht. Wo sollen sie leben, wenn nicht in Slums? Dort sind ihre Häuser illegal und sie werden in dieser Situation gehalten. Diese Ignoranz ist Teil des Plans, ein Mittel, um sie zu kontrollieren. Die Behörden wollen die Körper und die Geografien kontrollieren, die sozialen Räume, die die Menschen schaffen. Man erlaubt ihnen, dort in einer permanenten Situation der vorübergehenden Bereitschaft zu leben. Es wird davon ausgegangen, dass sie gehen, wenn die Behörden sie loswerden wollen, zum Beispiel wenn das Land zu wertvollem Bauland wird. Ansonsten werden sie aufgrund ihres illegalen Status verjagt. So werden sie im öffentlichen Diskurs ständig kriminalisiert und mit Illegalität gleichgesetzt. Sie werden als arbeitslos und ungebildet dargestellt, als diejenigen, die sich nicht benehmen, die Prostitution und Raub nachgehen. Auf der anderen Seite wird für Gated Communities geworben, die Sicherheit für die Reichen bieten, die Angst haben, ausgeraubt zu werden. Der Zugang zu diesen exklusiven Vierteln ist von außen nicht möglich. Dies ist eine Form der Kontrolle über die Stadt, die nicht von den staatlichen Behörden ausgeübt wird.
Die Stadtentwicklung bietet ein Instrument zur Diskriminierung. Menschen, die in Slums leben, sind rechtlich und physisch ausgeschlossen. Sie sind auch sozial vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen und werden als „gefügige Körper“, wie Michel Foucault es nennt, betrachtet. Alle anderen schauen auf sie herab. In einem meiner Interviews sagte ein Mann: „Ich brauche nichts. Entfernen Sie einfach dieses Etikett ,aus den Slums‘! Die Hälfte der Probleme, die wir haben, sind darauf zurückzuführen, dass wir so abgestempelt werden. Ich verlange nichts vom Staat, aber stempeln Sie mich nicht ab!“ Diese Etiketten sind Wissenskategorien, die die Entwicklung braucht, um ihre anderen zu schaffen: Slum, Barrio, Favela, Kachi Abadi. Es handelt sich um eine Reproduktion des Elends, die im Namen der Entwicklung erworben wurde und die eine sehr brutale soziale Erfahrung schafft.
Da ist der abwertende öffentlichen Diskurs, aber auch die materiellen Probleme: Zugang zu Trinkwasser, Unterernährung, unbefestigte Straßen, fehlende Kanalisation, kontaminierte Baumaterialien, Gesundheitsprobleme usw. Die Beziehung zwischen diskursiver Diskriminierung und materiellem Elend kommt in den eidesstattlichen Erklärungen für die Legalisierung von Häusern in Islamabad zusammen. Können Sie erklären, wie diese Dokumente funktionieren und was das für die Bewohner bedeutet?
Ich habe eine Fallstudie über ein Projekt zur Sanierung und Aufwertung der Slums in Islamabad durchgeführt. Das Projekt wurde vom »United Nations Development Programme« (UNDP) [Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, Anm. d. Red.] finanziert. Um ihre Häuser legalisieren zu lassen, mussten alle Bewohner eine eidesstattliche Erklärung abgeben, ein juristisches Dokument, in dem sie sich zu den Vorschriften verpflichteten. Wenn sie diese nicht akzeptierten, konnten sie nicht an dem Programm teilnehmen. Mit dieser eidesstattlichen Erklärung mussten die Menschen ihre eigene Kriminalisierung unterschreiben. Sie mussten ihre Illegalität zugeben und versichern, dass sie keine Straftaten gegen die Wohnungspolitik begehen würden. Außerdem mussten sie sich verpflichten, die vorgeschriebenen Standards einzuhalten. Aber wenn der Bau nach einem Jahr nicht abgeschlossen ist und alle Vorschriften erfüllt sind, kann ihr Eigentum jederzeit beschlagnahmt werden. Egal, wie viele Raten sie bereits gezahlt hatten, egal, ob sie sich den Bau überhaupt nicht leisten konnten. Sie bekamen kein Geld. Die Verwaltung legalisierte lediglich ihre Häuser. Außerdem mussten die Bewohner:innen erklären, dass sie ihr Grundstück niemals verkaufen werden. Normalerweise hat man, wenn man legales Eigentum besitzt, das Recht es zu verkaufen, wann immer man will. Aber hier müssen die Leute es aufgeben, wenn sie umziehen. Sie können ihre Rechte auf Mobilität und Eigentum nicht wahrnehmen. Das Schlimmste ist, dass sie nicht vor Gericht gehen können: Um am Legalisierungsprozess teilnehmen zu können, haben sie auf ihr Recht auf Zugang zum Rechtssystem verzichtet. Um die Früchte der Entwicklung zu ernten, mussten die Menschen auf sehr grundlegende Rechte verzichten. Die eidesstattliche Erklärung wurde vom UNDP als offizieller Teil des Projekts anerkannt. Wir können also nicht nur unserer Regierung die Schuld geben, denn dieses Projekt steht für eine globale Idee von Stadtentwicklung.
„Die Räumungsaktionen werden als Beseitigung illegaler ,Übergriffe‘ legitimiert. In der Geschichte von Islamabad und Brasilia gab es Hunderte solcher Operationen, bei denen ganze Siedlungen mit 10.000 bis 30.000 Menschen geräumt wurden.“
Können sie beschreiben, wie die Bewohner:innen mit Zwangsräumungen, Behörden und der Polizei umgehen?
Die Räumungsaktionen werden als Beseitigung illegaler „Übergriffe“ legitimiert. In der Geschichte von Islamabad und Brasilia gab es Hunderte solcher Operationen, bei denen ganze Siedlungen mit 10.000 bis 30.000 Menschen geräumt wurden. Diese Operationen werden in der Regel mit schwerem Gerät durchgeführt und von der Polizei oder anderen Streitkräften begleitet. Der gesamte Staatsapparat kommt zusammen, um das Land zu räumen. Dann wird das ganze Viertel mit Bulldozern aus dem Stadtbild getilgt. Später wird das Land in der Regel in einer öffentlichen Versteigerung verkauft.
In der frühen Geschichte Brasilias gab es eine Räumung, bei der Hubschrauber sehr nah über die Siedlung flogen, um starke Winde zu erzeugen und die Hütten zu zerstören. Es war den Menschen nicht möglich zu bleiben oder sich zu wehren. Aber sie nehmen es nicht einfach hin. Sie sind keine „fügsamen Körper“, wie sie im Diskurs dargestellt werden oder wie die Regierung sie darstellen will. Sie sind sehr aktiv. Sie kennen ihre Rechte und können viele Ressourcen und die Zivilgesellschaft mobilisieren, um gegen Zwangsräumungen vorzugehen. Es kann sogar sein, dass sie von der Justiz Hilfe bekommen. Aber das ist selten. Die meisten Zwangsräumungen erfolgten auf Anordnung der Gerichte. Der Staat ist ein einheitlicher Akteur im Kampf gegen die städtischen Armen.
Der Staat will die städtischen Armen kontrollieren und versucht, ihnen die Handlungsfähigkeit zu nehmen. Sie schreiben: „Ihr Verhalten wird nicht von ihnen geplant, sondern für sie“. Aber sie wehren sich und versuchen, ihre Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen. Wie machen sie das? Welche Rolle spielen dabei die Zivilgesellschaft, Selbsthilfeorganisationen, Gewerkschaften und politische Parteien?
Dass ihr Verhalten für sie und nicht von ihnen geplant ist, bedeutet, dass sie im öffentlichen Diskurs Wissenskategorien wie „Illegalität“ unterworfen sind. Aber die Armen nehmen diese Ideologie nicht einfach hin. Sie sind politisch wachsam, was ihre Rechte angeht. Sie arbeiten auf mehreren Ebenen mit verschiedenen Akteuren zusammen.
Teile der Zivilgesellschaft kümmern sich um Grundbedürfnisse, Bildung und Infrastruktur, wie den Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen, angemessenen Wohnungen oder Straßenverhältnissen. Sie bauen Schulen und installieren Wasserfilteranlagen. Solche Maßnahmen befassen sich mit den unmittelbaren Bedürfnissen, aber nicht mit den Wurzeln von Diskriminierung, Segregation und Ausgrenzung. Sie stärken weder die Menschen, noch tragen sie zu politischen Rechten bei.
Interessanter sind Selbsthilfeorganisationen, in denen sich Gemeinschaften zusammenschließen, aus ihren eigenen Ressourcen schöpfen und ihre Netzwerke mobilisieren. Es ist ermutigend, sich selbst etwas zu sichern, anstatt von der Zivilgesellschaft Almosen zu erhalten. Während meiner Feldforschung in den Slums von Brasilia traf ich auf eine Lumpensammlerin. Wann immer sie Bücher findet, will sie sie nicht verkaufen. Es gibt ein Haus, in dem sich alle Lumpensammler:innen treffen. Es heißt »Casa dos Movimentos«, das Haus der Bewegungen. Dort haben sie in den letzten zwanzig Jahren etwa 15.000 Bücher gesammelt. Sie sagen, wenn ihre Kinder in die benachbarten Schulen gingen, würden sie nicht gleich behandelt werden. Man würde auf sie herabsehen und sie kriminalisieren. Deshalb hatten sie einen Plan, um ihren Kindern andere Bildungsmöglichkeiten zu bieten. Mit Hilfe von Freiwilligen der Universität von Brasilia katalogisierten sie die Bibliothek und entschieden, was sie für den Schulunterricht verwenden wollten.
In Islamabad gibt es viele Menschen, die in reichen Stadtvierteln arbeiten. Sie würden ihre Arbeitgeber bitten, ihnen oder ihren Kindern zu helfen, eine Grundbildung zu erhalten – gerade genug, um zu wissen, wie man liest und schreibt und welche Art von Grundschulbüchern sie brauchen würden. Es gibt keine Schulbildung für sie, also organisieren sie kleine Teile der Schulbildung selbst. Sie sind nicht so ungebildet und unzivilisiert, wie sie im Diskurs dargestellt werden. Sie sind nur nicht sozial aufstiegsfähig. Auch hier ist ihr Verhalten für sie geplant. Sie sagen: „Gebt uns einfach die Werkzeuge!“
Sie haben auch ihre eigenen Gewerkschaften und sie sprechen mit politischen Parteien. Es gibt jede Menge Netzwerke. In der »Casa dos Movimientos« ziehen sie ihre Vertreter zur Rechenschaft, wann immer eine Wahl ansteht. Sie sprechen zu ihnen als die Gemeinschaft des Viertels, nicht als Lumpensammler:innen. Sie protestieren und gehen ins Parlament, um zu sagen, was sie wollen. Es gibt nur wenige linke politische Parteien, aber einige der Arbeiter:innen sind hier organisiert.
„Die Debatte über das Recht auf Stadt verändert diese Siedlungen und das Verständnis ihrer Bewohner, wie Städte funktionieren.“
Die Debatte über das Recht auf Stadt verändert diese Siedlungen und das Verständnis ihrer Bewohner, wie Städte funktionieren. Es gibt das Recht auf Stadt, das von »UN-Habitat« im Rahmen des Entwicklungsdiskurses propagiert wurde. Aber es gibt auch ein »Recht auf die Stadt«, das die Menschen nutzen, um ihre sozialen Räume, ihre Gleichberechtigung und ihren Zugang zu den Ressourcen der Stadt zurückzufordern. Sie wollen die Stadt radikal umgestalten. Sie sehen, dass die Stadt ihnen ebenso gehört wie den Menschen in den Gated Communities.
Der globale Ansturm der kapitalistischen Entwicklung mit der Erneuerung der städtischen Räume und die Ideologie, die ihn unterstützt, überschreitet regionale und nationale Grenzen. Er hat nur sehr wenige materielle und diskursive Instrumente zum Überleben hinterlassen. Ich möchte die Idee des Widerstands nicht überinterpretieren. Die überwiegende Mehrheit der Armen ist in erster Linie mit dem bloßen Überleben beschäftigt, und wir sollten Überlebensstrategien nicht mit politischen Zielen verwechseln. Was fehlt, ist eine bewusste ideologische Ausrichtung dieses Kampfes, um dem diskursiven und materiellen Angriff Einhalt zu gebieten. Wenn wir ihnen in der Wissenschaft oder durch zivilgesellschaftliche Organisationen wirklich helfen wollen, müssen wir verstehen, dass wir dem Diskurs über die Bedürfnisse der Wirtschaft, der eine Abrechnung mit dem Kapital ausschließt, ideologisch entgegentreten müssen. Es kann nicht nur ums Überleben gehen. Es geht um das gesellschaftliche Leben, das wir als Ideal ansehen. Wir können Instrumente und Konzepte beisteuern, die eine bessere, alternative Sicht auf die Gesellschaft bieten, und gemeinsam können wir an integrativen Gesellschaften mit demokratischeren Formen der Ressourcenverteilung arbeiten. Wir müssen uns Zugang zu den Rechten verschaffen, die nicht vom Staat sanktioniert sind, sondern uns gehören.
Autoren
Dr. Arslan Waheed ist Soziologe und Assistant Professor in der Abteilung für Entwicklungsstudien an der School of Social Sciences and Humanities der National University of Sciences and Technology (NUST) in Islamabad, Pakistan. Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge in Fachzeitschriften wie Social Sciences, Journal of Asian and African Studies und Local Environment. Seine Forschungsinteressen umfassen soziale Ungleichheiten, Entwicklungsdiskurse, Sozialtheorie und Urbanismus des globalen Südens.
Dr. Andreas J. Haller ist Journalist aus Köln.
Weiterlesen
▷ Arslan Waheed. (2021): „I Will Obey Whatever Orders Will Be Given to Me…“: A Critical Discourse Analysis of an Affidavit from a Slum Upgradation and Rehabilitation Project in Islamabad, Pakistan. In: Social Sciences, Volume 10 / Issue 6
▷ Arslan Waheed, Abdul Qadar & Yasir Mehmood (2022): Utopia of social distancing and dystopia of living in slums: urban poor’s perspectives from the global south and the theory of planned behaviour. In: Local Environment, Volume 27 / Issue 9
Titelbild
Islamabad | Foto: Naveedsharif/Wikimedia