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Einblicke in den Maschinenraum der Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« – Ein Interview mit Judith und Leonie von der Sammel-AG aus der Común #6 die Ende Februar 2022 erscheinen wird.

Der Erfolg der Berliner Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« (DWE) hat weltweit Furore gemacht. Etwa 60 Prozent der wahlberechtigten Berliner*innen stimmten beim Volksentscheid am 27. September 2021 für eine Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne. Der Weg dorthin war lang und steinig. Zunächst mussten in zwei Phasen Unterschriften gesammelt werden. In der ersten Sammelphase waren es 20.000. Deutlich mehr Unterschriften, nämlich 77.000, kamen zusammen. In der zweiten Sammelphase – den vier Monaten von April bis Juni 2021 – galt es 175.00 Unterschriften zu sammeln. Auch diese Marke wurde mit 350.000 deutlich überschritten. Es folgte ein intensiver Wahlkampf mit Kundgebungen, Straßenaktionen und Haustürgesprächen, der schließlich zum fulminanten Triumph beim Volksentscheid führte. Möglich war das alles nur, weil es gelang viele hundert Aktive zum Mittmachen zu motivieren. Die Strategie hinter diesem Organisierungserfolg hat sich die Sammel-AG der Kampagne ausgedacht. Mit den beiden Aktiven Judith und Leonie hat Hannes Strobel darüber gesprochen.

Was ist die Sammel-AG und was ist eure Aufgabe in der Kampagne?

Judith: Die Sammel-AG ist eine der sechs Arbeitsgruppen der Kampagne. Derzeit besteht ihr Kern aus zehn bis 15 Leuten. Die AGs übernehmen verschiedene Querschnittsaufgaben in der Kampagne. Zum Beispiel ist die Aktions-AG für Kundgebungen und Demos zuständig, die Öffentlichkeits-AG für Pressearbeit und Social Media und so weiter. In der ersten Sammelphase hatte sich die Sammel‑AG noch als die Gruppe verstanden, die selbst die nötigen Unterschriften sammelt. Aber in der zweiten Sammelphase haben wir ja viel mehr Unterschriften benötigt. Das kannst du nicht mit zehn oder 20 Aktiven stemmen und auch nicht mit ein paar mehr Leuten aus der Kampagne drum herum. Sondern es war klar, wir müssen uns eine berlinweite Struktur überlegen, die das stemmen kann.

Leonie: Unser Konzept ist letztlich voll aufgegangen. Es sah vor, das Sammeln in vier Säulen zu organisieren. Erstens Sammeln am Arbeitsplatz oder an der Hochschule. Letzteres ist wegen Corona leider weggefallen. Zweitens die großen Bündnispartner wie Mieterverein, Gewerkschaften und Parteien, die einige Unterschriften beigesteuert haben. Drittens die Gelegenheitsaktivist*innen, die wir mit Hilfe unserer App gut einbinden konnten. In die App wurden hunderte Sammelaktionen eingestellt, an denen man sich niedrigschwellig und spontan beteiligen konnte. Und viertens – die wichtigste Säule – unsere eigenen Strukturen. Wir wollten von Anfang an nicht „nur“ Unterschriften sammeln, sondern Menschen politisieren und nachhaltige Strukturen aufbauen.

Wie sehen die Strukturen aus, die ihr aufgebaut habt und wie habt ihr das gemacht?

Judith: Uns war klar, die Unterschriftensammlung in der zweiten Phase muss dezentral funktionieren. Es ging darum, überall in Berlin Anlaufstellen zu schaffen, damit Leute eigenständig losziehen können zum Sammeln. So sind wir auf die Idee mit den sogenannten Kiezteams gekommen – eine Gruppe die vor Ort die Unterschriftensammlung koordiniert und logistisch betreut, aber auch überlegt, wie man mehr werden kann. Davon gibt es mittlerweile in allen zwölf Berliner Bezirken, wie zum Beispiel Tempelhof-Schöneberg, mindestens eins. In manchen Bezirken wie Friedrichshain-Kreuzberg auch zwei, jeweils eins für Kreuzberg und eins für Friedrichshain.

An den Kiezteams beteiligten sich auch viele Leute ohne große politische Vorerfahrung. Manche, weil sie selber betroffen waren, etwa ihr Haus verkauft wurde, andere weil ihnen das Thema steigende Mieten ein Anliegen war. Die haben dann in unseren Strukturen ihre ersten politischen Erfahrungen gesammelt. Viele der neuen Leute sagen, dass sie viel gelernt und mitgenommen haben. Die solidarische Arbeitsweise in den Kiezteams half da natürlich total.

Leonie: Am Anfang gab es echte, physische Treffen, zu denen wir berlinweit an einen zentralen Ort eingeladen hatten. Das erste war Ende 2019, also vor Corona. Bei diesen Treffen stellten wir unseren Leitfaden vor. Also quasi als Anleitung dazu, wie erste Schritte zu einer Organisierung als Kiezteam aussehen könnten. Anschließend setzten sich die Leute dann nach Bezirken zusammen und überlegten gemeinsam, wo sich das Sammeln in ihren Bezirken lohnen könnte. Und dann kam Corona.

Wie hat sich Corona auf die Kampagne ausgewirkt? Wie seid ihr mit der Situation umgegangen?

Leonie: Erst mal war völliger Stillstand. Unser Konzept basierte auf Begegnung, darauf, dass Leute zusammenkommen. Das ging alles nicht mehr. Letztlich haben wir aber mit unseren digitalen Treffen für Neue dann sehr gut auf diese Corona-Situation reagiert. Die Treffen fanden abends online statt. Sie waren gut strukturiert, abwechslungsreich und es gab kurze Inputs zur Kampagne. Vor allem waren diese Treffen interaktiv. Es ging schnell in Kleingruppen, in denen die Leute inhaltlich diskutieren konnten. Die Treffen haben einfach Lust darauf gemacht mitzumachen und die Leute waren danach hoch motiviert.

Geholfen hat uns die gute Social Media Arbeit der Öffentlichkeits-AG. Fast 80 Prozent der Leute kamen über Facebook, Instagram und Co. zu den Neuen-Treffen. Am ersten Treffen im Juni 2020 nahmen 17 Leute teil, im September dann 40, im Oktober dann schon 100, dann 120, 150. Insgesamt haben wir 600 bis 700 Leute in die Strukturen von »DWE« gespült, die alle ein erstes motivierendes Treffen hatten. Wir haben die Kontakte der Neuen dann an das jeweilige Kiezteam oder die AG weitergeleitet, bei dem oder der sie mitmachen wollten. Die Kiezteams haben diese Interessierten dann kontaktiert und eingebunden.

Judith: Dadurch sind die Kiezteams rasant gewachsen. Bis dahin waren in den Kiezteams höchsten fünf bis sechs Leute aktiv, das hat sich dann multipliziert. Das war ganz schön aufregend. Von Woche zu Woche sind neue Leute dazugekommen. In Kiezteams wie in Neukölln kamen jede Woche zehn bis 20 neuen Leute dazu. Es war für viele total motivierend dort politisch aktiv zu werden, wo sie wohnen, wo sie sich auskennen. Die Treffen fanden in der Regel online statt. Das hatte Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite wurden sicher einige ausgeschlossen. Gerade Ältere, die nicht so technikaffin waren. Das wurde auf den Kiezteamtreffen teilweise auch heiß diskutiert. Auf der anderen Seite war es für viele eine Möglichkeit, einfach mal dazuzukommen. Das hat uns durch den Corona-Winter gerettet.

Leonie: Auffällig war, dass es in den Kiezteams am schnellsten voran ging, in denen einzelne Zugpferde quasi das Zepter in die Hand genommen hatten.

Was meinst du mit „Zugpferde“?

Leonie: Zugpferde sind Einzelpersonen, die proaktiv Kiezteams organisiert und zu den ersten Treffen eingeladen haben. Einige Zugpferde kamen von uns aus der Sammel-AG. Die Dynamik war die: Wir überlegen uns die Konzepte. Die Bildungsarbeit findet in der Sammel-AG statt. Die Leute nehmen das Wissen mit und bauen dann ein Kiezteam auf.

Judith: Sie haben sich auch um die Rückbindung zur Gesamtkampagne gekümmert. Also eine wichtige Mittler*innenrolle übernommen. Sie haben auch dafür gesorgt neue Leute einzubinden. Ein entscheidender Punkt war es, neue Personen dazu zu bringen selbst Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen. Das war teilweise sehr schwierig. Deshalb braucht ein Zugpferd einen guten Überblick und ein Gespür dafür, wer welche Aufgaben übernehmen könnte. Es ging auch darum Leute zu ermutigen zum Beispiel mal ein Kiezteamplenum zu moderieren, sie zu ermächtigen und Erfahrungen machen zu lassen.

Das hört sich jetzt so an, als ob viel von einzelnen Leuten und vom Zufall abhing, stimmt das?

Leonie: Nein. Wir sind da schon sehr strategisch vorgegangen. Anfangs wurden das Unterschriftensammeln und die entsprechenden Strukturen dafür von einigen in der Kampagne etwas belächelt. Als eine Sache die gemacht werden muss, aber politisch nicht so wichtig ist. Eben als Dienstleistungsmaschine. Deshalb konnten wir als Sammel-AG sehr frei agieren.

Wir haben zu Beginn sozialräumliche Potenzialanalysen angefertigt. Jeden einzelnen Stadtteil sind wir durchgegangen nach Kriterien wie Mieter*innen-Anteil, Bestände der Wohnungskonzerne die wir enteignen wollen, zurückliegende Wahlergebnisse etc. Wir haben einen Strategieplan geschrieben und den dann Schritt für Schritt umgesetzt. Zum Beispiel gab es am Anfang nur ein Kiezteam für die Stadtteile Mitte, Wedding, Moabit, Tiergarten und Prenzlauer Berg zusammen. Aber unsere Potenzialanalyse hat klar gezeigt, dass es sich lohnt in jedem dieser Stadtteile ein eigenes Kiezteam aufzubauen. Hier haben wir dann entschieden: Ab sofort gibt es ein Kiezteam für Mitte, eins für Wedding und so weiter. Am Anfang fanden die Aktiven aus dem ursprünglichen großen Kiezteam es gar nicht so cool, dass wir das einfach ohne sie entschieden haben. Letztlich ist es aber dabei geblieben, weil klar war, dass es sinnvoll ist.

Zusätzlich wurden verschiedene Workshop-Formate von der Sammel-AG entwickelt die immer auch das Ziel hatten mit Train-the-Trainer-Formaten Multiplikator*innen auszubilden. Thematisch ging es zum Beispiel um die Frage „Wie sammele ich gut Unterschriften?“ oder es gab Argumentationsworkshops.

Judith: Das hat total gut funktioniert. In den Kiezteams gab es dann einen Pool von Aktiven, die diese Workshops für neue Leute durchführen konnten. Die Kompetenz einen Workshop zu geben, hat sich in der Kampagne vervielfältigt. Es war immer klar, dass es keine Schablone gibt, die man auf jedes Kiezteam gleich anwenden kann. Jeder Bezirk hat seine eigene Bevölkerungsstruktur und Eigenarten. Es wird überall in bisschen anders funktionieren und so war es im Endeffekt dann ja auch. Mit dem Kiezteamrat haben wir dann einen Ort für einen übergreifenden Austausch geschaffen.

Welche Bedeutung hatte der Kiezteamrat?

Judith: Uns wurde schnell klar, dass es einen Ort der Vernetzung und des Austauschs für die Kiezteams geben muss, um effizient arbeiten zu können. Der Kiezteamrat wurde bewusst als Parallelstruktur zum DWE-Plenum geschaffen, damit die Kiezteams ein größeres Gewicht und eine eigene Stimme in der Kampagne bekommen. Denn von Teilen der Kampagne wurden die Kiezteams ja am Anfang noch ein bisschen belächelt. Den ersten Kiezteamrat gab es im Dezember 2020. Jedes Kiezteam hat zwei oder drei Delegierte entsandt. Wir haben als Sammel-AG die Vernetzung und den Wissensaustausch zwischen den Kiezteams moderiert und viele Informationen aus der Gesamtkampagne dort hineingetragen. Zum Beispiel „was diskutiert die Vergesellschaftungs-AG gerade zum Entwurf des Vergesellschaftungsgesetzes?“. Die Kiezteams konnten voneinander lernen und Skills austauschen. Zum Beispiel wie man gut neue Leute einbindet oder was erfolgreiche Sammel- oder später dann Wahlkampfstrategien sind.

Stichwort Wahlkampf. Was war da eure Rolle als Sammel-AG?

Judith: Das war eine etwas schwierige Phase. Wir haben ja bis Ende Juni 2020 noch Unterschriften gesammelt und Anfang August ging dann schon der Wahlkampf los. Bis zum Ende der zweiten Sammelphase erschien es ja sehr knapp, ob genug gültige Unterschriften zusammenkommen. Deshalb haben wir uns erst relativ spät mit dem Wahlkampf auseinandergesetzt. Es war aber klar, dass die Kiezteams den Wahlkampf bestreiten müssen. Wer denn auch sonst? Als Sammel-AG sahen wir unsere Rolle weiterhin darin, die Kiezteams zu koordinieren und für Wissensvermittlung untereinander zu sorgen. Im Wahlkampf hat sich gezeigt, wie wichtig es war, vor Ort Strukturen aufgebaut zu haben.

Leonie: Es gab auch Konflikte darum. Einzelne in der Kampagne haben zum Beispiel den Strukturaufbau in den Außenbezirken kritisch gesehen. Das sei Energie- und Ressourcenverschwendung. Stattdessen sollten Leute aus der Innenstadt ab und zu dort hinfahren, um die Unterschriften einzusammeln. Aber eine große Mehrheit in der Kampagne war sich einig, dass es keinen Sinn macht die Außenbezirke zu vernachlässigen. Etwa Marzahn-Hellersdorf. Dort ist von alleine gar nichts entstanden. Deshalb sind wir schon relativ früh auf die AG-Starthilfe zugegangen und haben gefragt, ob sie Lust hat, uns zu unterstützen. Weil uns klar war, dass wird wahnsinnig aufwendig und schwierig und wir haben nicht die Kapazitäten uns da so reinzuhängen, halten diesen Bezirk aber für total wichtig.

Wie geht’s jetzt weiter mit »DWE« und was ist dabei eure Rolle als Sammel-AG?

Leonie: Hätten wir den Volksentscheid verloren, wäre es wahrscheinlich sehr unrealistisch gewesen, die entstandenen Strukturen aufrechtzuerhalten. Jetzt geht es irgendwie weiter. Ohne den Druck Unterschriften sammeln oder einen Wahlkampf gewinnen zu müssen haben wir die Chance alles nochmal neu zu denken. Es besteht die Möglichkeit, dass wir uns als Kampagne noch breiter aufstellen. Drei Säulen stehen gerade im Mittelpunkt: Lobbyarbeit für ein Vergesellschaftungsgesetz machen, Organizing und über die eigenen Strukturen nachdenken.

Judith: Am Anfang hatten wir uns vorgenommen mehr lokale Mieter*innen-Inis mit einzubeziehen beim Sammeln. Aber da ist relativ schnell klar geworden, dass viele keine Zeit und Kapazitäten dafür haben, weil sie mit eigenen Kämpfen und Auseinandersetzungen beschäftigt sind. Jetzt stellen wir uns gemeinsam mit den Kiezteams die Frage, wie können mehr Leute Teil unserer Strukturen sein? Wie können sich die Kiezteams diverser aufstellen? Als Sammel-AG fragen wir uns aber auch, ob wir weiter die Mittlerin sind, zwischen Kiezteams und Kampagne. Die Kiezteams sind jetzt gewachsene Gruppen und auch selbstbewusster geworden. Für bestimmte Sachen braucht es uns nicht mehr so richtig.


Das Interview führte Hannes Strobel.

Hannes Strobel ist Soziologe und beschäftigt sich insbesondere mit dem Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit. Er engagiert er sich seit vielen Jahren in der stadtpolitischen Bewegung, derzeit in der »AG-Starthilfe« der Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« in Berlin (▷dwenteignen.de). Von ihm sind auch Beiträge in Común #1 und #5 erschienen.


Foto

© Jana Legler/DWE