Die österreichische Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000)
Marcel Bois
Die Möbel sind rekonstruiert, die Deckenleuchte ist restauriert und auch der kirgisische Wandteppich hängt wieder an Ort und Stelle: Seit September 2022 ist die Wohnung von Margarete Schütte-Lihotzky in der Wiener Franzensgasse der Öffentlichkeit zugänglich. In die Räumlichkeiten, die die Architektin in ihren letzten drei Lebensjahrzehnten bewohnt hat und die nun unter Denkmalschutz stehen, ist ein wissenschaftliches Zentrum eingezogen. Es trägt den Namen Schütte-Lihotzkys und möchte „den Blick auf die fehlenden Beiträge der Frauen in der österreichischen Architekturgeschichte“ richten. Das kommt nicht von ungefähr. Denn Schütte-Lihotzky gehört zu den Pionierinnen, zur ersten Generation von Frauen, die als Architektinnen im deutschsprachigen Raum arbeiteten.
Als die damals Achtzehnjährige ihr Architekturstudium im Jahr 1915 an der Kunstgewerbeschule in Wien aufnimmt, stellt sie noch eine Ausnahme unter den Studierenden dar. Vor 1918 ist die Schule die einzige Einrichtung in Österreich, die eine solche Ausbildung für Frauen anbietet. Dass Margarete Lihotzky, wie sie zu dieser Zeit noch heißt, an eine Hochschule gehen kann, verdankt sie der Herkunft aus einer bürgerlichen Familie.
Ihren Abschluss macht sie als gerade der Erste Weltkrieg beendet und die Habsburgermonarchie zusammengebrochen ist. In der neu gegründeten österreichischen Republik engagiert sich die junge Frau für die Wiener Siedlungsbewegung, die aufgrund der Wohnungsnot in der Stadt entstanden ist. Hier arbeitet sie unter anderem mit dem prominenten älteren Kollegen Adolf Loos zusammen, der als einer der Wegbereiter der modernen Architektur gilt. Später ist sie dann im Baubüro des österreichischen Verbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen tätig, dessen Generalsekretär der Nationalökonom Otto Neurath ist, mit dem sie fortan eine enge Freundschaft verbindet. Neben Ella Briggs ist sie die einzige Frau, die Projekte zum kommunalen Wohnbauprogramm des »Roten Wien« beiträgt.
Außerdem lernt sie Ernst May kennen. Dieser holt sie im Jahr 1926 ans Frankfurter Hochbauamt, wo sie ihr berühmtes Werk entwickelt: die Frankfurter Küche. Die sechseinhalb Quadratmeter große, kompakt gehaltene Küche, die so praktisch wie ein industrieller Arbeitsplatz sein soll, wird in tausende Wohnungen des »Neuen Frankfurt« eingebaut. Sie gilt als Vorläuferin unserer heutigen Einbauküchen und verhilft ihrer Erfinderin zu internationalem Ruhm.
Dank May nimmt Schütte-Lihotzky ab 1929 regelmäßig an den von Le Corbusier initiierten »Congrès Internationaux d’Architecture Moderne« (CIAM) teil, bei denen über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten prominente (und überwiegend männliche) Stadtplaner:innen und Architekt:innen aus aller Welt zusammenkommen, um Fragen des Städtebaus und der Architektur zu diskutieren. Und May ist es auch, der die junge Architektin 1930 mit in die Sowjetunion nimmt, wo sein Team ganze Industriestädte baut.
Als sich Schütte-Lihotzky und ihr Mann Wilhelm Schütte, den sie in Frankfurt kennengelernt hat, 1937/38 erfolglos darum bemühen, außerhalb der Sowjetunion und fernab von Nazi-Deutschland Fuß zu fassen, erhalten sie das Angebot des befreundeten Architekten Bruno Taut, nach Istanbul zu kommen, um dort bei ihm an der Akademie der schönen Künste zu arbeiten. Dort schließen sie sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe an. Schütte-Lihotzky reist im Winter 1940/41 als Kurierin nach Wien, wird dort allerdings von der Gestapo enttarnt und verhaftet. Die Zeit bis Kriegsende verbringt sie in Haft, hauptsächlich im bayerischen Aichach.
1947 kehrt Schütte-Lihotzky nach mehr als zwanzig Jahren im Ausland dauerhaft in ihre Heimatstadt zurück. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt eine international anerkannte Architektin ist, erhält sie in den kommenden Jahrzehnten nahezu keine öffentlichen Bauaufträge. Ein Grund ist der virulente Antikommunismus in der Republik Österreich – Schütte-Lihotzky gehört seit 1939 der Kommunistischen Partei Österreichs an.
Auch als Frau hat es Schütte-Lihotzky in ihrem Beruf weiterhin schwer. Selbst in den Jahren, in denen sie von ihrem männlichen Umfeld profitiert, kann sie dort nicht gleichberechtigt agieren. Ihr Mann Wilhelm ist beispielsweise drei Jahre jünger, hat sein Studium später abgeschlossen und verfügt keineswegs über mehr Berufserfahrung. Trotzdem enthalten seine Arbeitsverträge an verschiedenen Orten stets bessere Konditionen als die seiner Frau – und zwar jeweils beim selben Arbeitgeber.
Bis heute wird Schütte-Lihotzky trotz eines breiten Œuvres meist auf ihre weiblich konnotierten Arbeiten reduziert. Obwohl sie Siedlerhütten entworfen, Gemeindebauten geplant und Verlagshäuser gebaut hat, stehen im Zentrum der Werkrezeption Kindergärten und Küchen.
Margarete Schütte-Lihotzky stirbt im Januar 2000 kurz vor ihrem 103. Geburtstag. In ihren letzten Lebensjahrzehnten tritt sie als mahnende Zeitzeugin der NS-Zeit auf. Für eine junge Generation von Architektinnen wird sie zur Identifikationsfigur. Denn zweifellos haben Pionierinnen wie sie ihren späteren Kolleginnen den Weg bereitet. Inzwischen studieren deutlich mehr Frauen als Männer das Fach. Trotzdem kommen noch immer nicht alle in der Berufstätigkeit an. Die „missing group“ – also die Diskrepanz zwischen der Anzahl der Studentinnen und der Zahl der Frauen, die bei den Architekt:innenkammern als Mitglied geführt werden – umfasst noch immer rund zwanzig Prozent.
Autor
Marcel Bois ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der »Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg«. Gemeinsam mit Bernadette Reinhold hat er das Buch »Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk« (Birkhäuser 2019, englische Übersetzung: 2023) herausgegeben.
Titelbild
Rainer Midlaszewski: Collage mit einer Zeichnung von Lino Salini (1927) und Fotos der Frankfurter Küche sowie des Globus-Verlagsgebäudes in Wien/Brigittenau (alle Bilder bei Wikimedia Commons)