Rezensionen


Seven Prisoners

Moderne Sklaverei im Herzen von Sao Paolo

Janika Kuge und Simon Schaupp

Brecht wäre stolz auf diesen Film von Alexandre Moratto und Thayná Mantesso der so ambitioniert wie kreativ die „vierte Wand“ einreißt und die Zuschauenden zur Reflexion bringt. Er beginnt klassisch mit rührenden Abschiedsszenen des verantwortungsbewussten jungen Mannes Matteus (Christian Malheiros), der für seine Familie vom Land in die Stadt aufbricht, um mit harter Arbeit den gemeinsamen Lebensunterhalt zu sichern. Die Mutter ist alt und krank, die Schwestern scherzen viel und alle gehen miteinander gutmütig und liebevoll um. Aber die Familie ist bettelarm.

Dann sitzt Matteus, der Protagonist, zusammen mit anderen jungen Männern vom Land in einem Van auf dem Weg nach Sao Paulo – und findet sich nach kürzester Zeit in den Fängen eines Sklavenhalters wieder. Sofort beginnen die Gefangenen, allen voran Matteus, Strategien zu entwickeln, wie sie entkommen oder zumindest ihre Situation verbessern können. Dabei beginnt sich die Erzählung auf bestürzende Weise zu drehen: Denn Matteus handelt hin- und hergerissen zwischen Widerstand und Opportunismus auf Kosten seiner Kollegen. Die mit diesem Hin- und Hergerissensein einhergehenden inneren Kämpfe werden von Malheiros in einer schauspielerischen Glanzleistung auf den Punkt dargestellt. Damit erzählt der Film weder eine Geschichte von machtlosen Opfern noch von heroischem Widerstand. Es wird das nüchterne Bild eines brutalen Systems gezeichnet, das den Zuschauenden keine moralische Überlegenheit zugesteht. Die Brutalität zeigt sich dabei weniger in der Darstellung einzelner Gewaltakte als vielmehr in der Alltäglichkeit der modernen Sklaverei. In einer erschütternden Szene weist der Menschenhändler Luca (Rodrigo Santoro) auf Häuser, Stromkabel und Trassen und erklärt: „Ihr steckt in allem drin, eure Arbeit, eure Situation steckt in allem drin.“ Die moderne Stadt ist nicht nur Schauplatz, sie ist eine Bedingung für die ungerechten Zustände. Ebenso der Gegensatz zwischen Stadt und Land: Nicht allein eine naive Hoffnung auf gesellschaftlichen Aufstieg, sondern der Kampf ums Überleben zwingt immer mehr Menschen in das Moloch der Städte und dazu, ihre kleinen Landwirtschaften aufzugeben. Das zeigt sich auch, wenn sich als liberal und modern inszenierende Politiker und Unternehmer im Film als Inhaber des Sklavenhandels identifiziert werden. Die große Leistung des Films besteht deshalb vor allem darin, Sklaverei als einen alltäglichen Bestandteil der modernen Welt zu zeigen und im Kleinen wie im Großen die Mechanismen ihrer Stabilisierung in den Blick zu nehmen.

Seven Prisoners (7 Prisioneiros) von Alexandre Moratto und Thayná Mantesso, Brasilien 2021, 91 Minuten, ab 16 Jahren, verfügbar auf Netflix

Janika Kuge ist Teil der Común-Redaktion. Simon Schaupp ist wissenschaftlich und aktivistisch engagiert in Basisgewerkschaften und für emanzipatorische Arbeitskämpfe.


Community Organizing reloaded

Revolutionäre Stadtteilarbeit – Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis

Rainer Midlaszewski

In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre diskutierte ein Teil der deutschen radikalen Linken eine Neuausrichtung seiner Praxis – weg von Kampagnen und Mobilisierungen für politische Großereignisse und hin zur Basisarbeit entlang sozialer Alltagsprobleme, um Keimzellen einer antikapitalistischen Organisierung im urbanen Raum zu erschaffen. Tatsächlich wagten einige Gruppen den Schritt raus aus der linken Subkultur und rein in den Stadtteil mit dem Anspruch, herrschaftsfreie und antikapitalistische Politik im Alltag zu verankern und solidarische Beziehungen aufzubauen. Mit fünf dieser Initiativen führten die Herausgeber:innen des Buches »Revolutionäre Stadtteilarbeit – Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis«, die Gruppe »Vogliamo tutto«, zwischen 2020 und 2021 ausführliche Interviews, die im Band dokumentiert werden: »Berg Fidel Solidarisch« (Münster), »Hände weg vom Wedding« (Berlin), »Kiezkommune Wedding« (Berlin), »Solidarisch in Gröpelingen« (Bremen) und »Wilhelmsburg Solidarisch« (Hamburg).

Die Gruppe »Vogliamo tutto« selbst versteht sich als eher theoretisch arbeitender Teil der radikalen Linken, der mit Neugierde Strategien zur Überwindung linker Marginalisierung und Selbstisolation erkunden möchte. Sie befragte die Stadtteilinitiativen nach ihrem Selbstverständnis, ihren Organisationsstrukturen und ihren konkreten Erfahrungen. Eine Einleitung ins Thema und eine Auswertung sind der Dokumentation der Gespräche an die Seite gestellt.

Im Kern betreiben alle befragten Stadtteilinitiativen klassisches Community Organizing, ohne es so zu benennen: aktivierende Befragungen, 1:1-Gespräche, Identifizierung von Themen und potenziellen Kernaktiven oder Multiplikator:innen, Aufbau von Netzwerken usw. Ein Konzept, mit dem der Soziologe Saul Alinsky schon Ende der 1930er Jahre in den Armenvierteln von Chicago versuchte, Nachbarschaften für ihre Interessen zu organisieren. Auch die italienische Autonomia erkannte in den 1970er Jahren, dass die Kämpfe aus den Fabriken heraus in den Alltag der Stadtteile getragen werden müssen und Themen, wie zum Beispiel Wohnen, politische Handlungsfelder sind. Antonio Negris Begriff des „gesellschaftlichen Arbeiters“ theoretisierte diesen Strategiewechsel. An dieser Stelle sind die befragten Initiativen und die Fragenden von »Vogliamo tutto« erstaunlich geschichtsvergessen, spielen doch diese historischen Resonanzräume weder als Referenz noch als politische Erfahrung eine Rolle. Merkwürdig, denn der Name der Herausgeber:innen, »Vogliamo tutto« (Wir wollen alles), entstammt genau diesem historischen Kontext. „Wir wollen alles“ war eine zentrale Parole der Autonomia. Anders als im Buch dargestellt ist Community Organizing also keineswegs das „neue Ding“. Der Ansatz der befragten Gruppen erinnert ein wenig an den Betriebsinterventionismus der 1970er Jahre in Deutschland (studentische Gruppen gingen in die Fabriken, um dort die Arbeiter:innen zu organisieren), nur dass hier der Stadtteil im Fokus steht.

Auch aktuelle Diskussionen zum „transformativen Organizing“ sind kein Bezugspunkt, der in den Texten auftaucht. Die Initiativen meinen genau das, aber sprechen lieber von „Kollektivität“ und vom „Aufbau antikapitalistischer Gegenmacht“. Dieses „revolutionäre“ Wortgeklingel nimmt viel Raum ein. Es ermüdet und formuliert einen so hohen Anspruch, dass die konkrete Praxis daran eigentlich nur scheitern kann.

Und tatsächlich bleibt in der konkreten Praxis von der „revolutionären Stadtteilarbeit“ nicht viel übrig. Die Mobilisierung und Einbindung der Stadtteilbewohner:innen in politische Strukturen ist schwierig. Am ehesten gelingt sie beim Thema Wohnen, insbesondere in Nachbarschaften, die mit dem Geschäftsgebaren großer Immobilienunternehmen konfrontiert sind, wie zum Beispiel der LEG in Münster oder der Vonovia in Bremen (Renovierungsstau, undurchsichtige Nebenkostenabrechnungen, Nichterreichbarkeit). In Münster konnte die LEG dazu gezwungen werden, eine Art Bezirkshausmeister zu installieren und notwendige Reparaturen zeitnah auszuführen.

Diesen kleinen Erfolgen steht die Gefahr gegenüber, in die Sozialarbeitsfalle zu rutschen. Einige Initiativen sind an festen Orten im Stadtteil erreichbar und bieten Beratung und Begleitung an, zum Beispiel bei Problemen mit dem Jobcenter, oder vermitteln diese. Alle Initiativen machen die Erfahrung, dass ihr Angebot, individuelle Probleme in der Gemeinschaft mit anderen Betroffenen zu bearbeiten und dabei solidarisches Handeln sowie Kapitalismuskritik zu entwickeln, nur begrenzt funktioniert. Die Betroffenen haben primär das Bedürfnis, ihr individuelles Problem individuell zu lösen, ohne sich dazu in einen kollektiven Prozess begeben zu müssen. Sie nehmen Beratungsangebote als „Dienstleistung“ wahr, aber sind nicht bereit, Teil der Struktur zu werden, die diese Angebote organisiert.

30 Jahre Neoliberalismus und die Auflösung solidarischer Arbeiter:innenmilieus haben ihre Spuren hinterlassen. Dieses gesamtgesellschaftliche Setting der Individualisierung, in dem die Stadtteilinitiativen agieren, wird von ihnen nicht als mögliche Blockade ihres Ansatzes gesehen, sondern als Bestätigung der Notwendigkeit ihres Engagements interpretiert. Lediglich die Gruppe »Berg Fidel Solidarisch« verweigert konsequent die Einzelfallhilfe und sucht immer nach einer gemeinsamen Lösung. Sie bietet keine individuelle Beratung an, verfügt über keinen festen Ort im Stadtteil und ist sozusagen strukturell vor der Sozialarbeitsfalle sicher.

Eine weitere Erfahrung der Initiativen ist, dass Menschen in prekären Lebenssituationen so mit der Organisation ihres Alltags beschäftigt sind, dass sie kaum Ressourcen haben, sich darüber hinaus zu engagieren. All das spricht nicht gegen Gemeinwesenarbeit. Ihre Aufladung mit hohen „revolutionären“ Zielen kann jedoch Frustrationen erzeugen, sodass dem transformativen Organizing durch Überforderung der Atem ausgeht.

Wer sich im Buch durch die langen und oft sehr detailreichen Interviews wühlt, erhält einen guten Einblick in die Praxis von Gruppen, die aktuell mit Community Organizing experimentieren, und in die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind.

Eine Ergänzung zur Buchbesprechung: Im Oktober 2022 waren die beiden Initiativen »Berg Fidel Solidarisch« aus Münster und »Solidarisch in Gröpelingen« aus Bremen Gäste beim Vernetzungswochenende Duisburger Initiativen und berichteten von der Weiterentwicklung ihres Organizing. In Münster wird aktuell ein Raum als dauerhafter Anlaufpunkt im Stadtteil gesucht. Dort sollen dann auch Beratungen und Einzelfallhilfen angeboten werden – eine Abweichung von der bisherigen Praxis, immer eine gemeinsame Lösung zu suchen. »Solidarisch in Gröpelingen« ist es gelungen, mehr Bewohner:innen in ihre Strukturen einzubinden. Sie nehmen an Vollversammlungen, Aktionen und sozialen Angeboten teil. Die Beratungsangebote werden inzwischen sogar von Menschen aus anderen Stadtteilen wahrgenommen. Dem Prinzip einer „Stadtteilgewerkschaft“ folgend, ist geplant, zukünftig nur diejenigen zu unterstützen, die auch über eine formale Mitgliedschaft verfügen. Die Frage, ob sich Verbindlichkeit und Integration durch eine Zwangsmitgliedschaft besser herstellen lassen, wird die Zukunft beantworten. Dass der Aufbau von solidarischen Beziehungsweisen auch ohne den ideologischen Überbau einer „sozialistischen“ oder „revolutionären“ Perspektive wertvoll ist, wollten die beiden Initiativen jedoch nicht anerkennen.

Revolutionäre Stadtteilarbeit – Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis, Vogliamo tutto (Hg.), 2022, 208 S., Unrast Verlag, 16 Euro, kostenloser Download als PDF

Rainer Midlaszewski ist stadtpolitisch im Ruhrgebiet aktiv und Teil der Común-Redaktion.


BITTE LEBN

Urbane Kunst & Subkultur in Berlin 2003–2021

Ernst A.

Was hat linke Subkultur mit Streetart zu tun? Was hat Streetart mit Gentrifizierung zu tun? Wem gehört Berlin? Dieses Buch gibt Antworten darauf.

Wie der Untertitel vielleicht schon erahnen lässt, geht es in BITTE LEBN um eine Zeit in Berlin, die häufig vernachlässigt wird. Allzu bekannt sind die Geschichten der Nachwendejahre, von schier unendlichen Möglichkeiten: Überall Leerstand und alles konnte erprobt werden. Raum für so vieles, was die subkulturelle Palette zu bieten hat, es war ja so schön.

Genau in dem Moment, in dem diese grenzenlose Freiheit endet, setzt BITTE LEBN an und erzählt auf eindrucksvolle Weise die Geschichte des Ausverkaufs einer Stadt und vor allem des Kampfes diverser Akteur:innen aus Subkultur und urbaner Kunst dagegen.

Mit Subkultur ist hier linke Subkultur und mit urbaner Kunst zu großen Teilen explizit politische Kunst angesprochen. In der Erzählung dieser Geschichte fließen eine Vielzahl von Perspektiven zusammen. In Kombination mit einer reichen Anzahl großformatiger Bilder und einem durchaus quirligen, aber unaufdringlichen, Layout ergibt sich eine ziemlich schöne Lesbarkeit, welche das Thema dieses Kampfs perfekt einfängt: Die Wildheit der unterschiedlichen Szenen der Erzählung wird durch die Bebilderung wiedergegeben. Da es sich häufig nicht um gestellte Fotos handelt, sondern bei Aktionen aufgenommene, aus dem Moment gerissene Sequenzen abgebildet werden, entsteht eine gefühlte Nähe zu den Geschehnissen. Beim Durchblättern des Buches hat man fast das Gefühl, durch eine Stadt zu wandern und an Wänden zu lesen was passiert ist.

Die Rolle von Street-Art und Graffiti wird im Buch aber durchaus ambivalent erklärt und auch kritisch als Gentrifizierungsmotor gesehen, womit die Künstler:innen ihrer Szene und dem für sie so wichtigen Lebens- und Wirkungsraum Straße aus Versehen und peu à peu den Garaus machen. Dieses Dilemma ist gleichzeitig Triebfeder für viele der Menschen, die sich an den Aktionen beteiligt haben. Ihr geradezu verzweifelter Kampf gegen Inverstor:innen und letztlich eine kapitalistische Marktwirtschaft mischen eine große Wehmut in die Lektüre.

Ein besonderes Augenmerk im Buch liegt auf großen Wandbildern, ob in Form von Murals an besetzten Häusern, mit Malerstange gerollte Sprüche oder Graffiti – sie werden auf einer Karte in der Stadt verortet und ihre Entstehungsgeschichten jeweils erklärt. Kartierungen spielen insgesamt eine wichtige Rolle: Sie verbinden das Defilee der Bilder mit ihren konkreten Orten und Ereignissen.

Einige der begleiteten Kollektive/Initiativen/Orte sind Fleischerei/Centrifuga, One Up, Smash G8, Mediaspree versenken, Die Räuber, Ms Stubnitz, Fuckparade/Butt and Better, Reclaim your City, Galerie Neurotitan, Zur Klappe am Mehringdamm, Antinational Galerie, Rote Insel, Rauch Hauss, Brunnenstraße 183, Liebig 34, KØPI, Friedelstraße 54, Der Schlüssel der Stadt, Gängeviertel, Oz, Gecekondu, Südblock, Kotti & Co, Manteufelstraße 39, Mehringhof, Plakatief, Seven Resist, Volkswriterz, Como Freaks, Anarchistisches Zentrum Nijmegen, Curvybrache, Berlin Kidz, Kulturkosmos, Palast der Republik Räuberhöhle, Mensch Meier, Each one teach one, Female Fame, SQEK, und CCC. Das Material des Buchs vereint Zeugnisse von Graffiti Crews, besetzten Häusern, Haus- und Ladenprojekten, Partykollektiven, Wandmalgruppen, Nachbarschaftsinitiativen und Streifzüge von Einzelpersonen, ohne dass ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird.

Entstanden ist das Buch im Umkreis des »Reclaim your City« Netzwerks. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk, das sich seit 2009 zu kollektiv organisierten Ausstellungen, Wandmalaktionen, Kongressen und temporären Besetzungen zusammenfindet.

BITTE LEBN – Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003–2021, Gestaltet von Anna Reinhardt und Mareike Walter, 2022, Assoziation A, 480 Seiten, 38 Euro

Ernst A. ist in der Bremer Subkultur unterwegs.


Inhaltsverzeichnis