Rezensionen


Zwei Sekunden brennende Luft

Ein Roman aus der Pariser Vorstadt

Rainer Midlaszewski

Ein grandioser Anfang. Der Ich-Erzähler Astor nimmt uns mit zu einer illegalen Party im Untergrund eines ungenutzten Parkhauses in einer namenlosen Banlieue bei Paris. Wir folgen ihm über eine Brache und durch dunkle Betongänge ins Licht, zu den Bässen und dem Gedränge. In langen Assoziationsketten und detaillierten Beschreibungen vermischen sich Erinnertes und Gegenwärtiges, Gedanken und Handlung zu einem verdichteten Text. Und hier ist dann auch schon gleich die literarische Qualität des Romans benannt. Halbsätze, manchmal nur einzelne Worte und dann wieder fast rhythmische endlose Kettensätze, die uns in die Handlung und in die Gedankenwelt des Protagonisten hineinziehen. Hier und da vielleicht etwas viel Pathos und Poesie. Muss man mögen. Mir hat es gefallen.

Die Party endet abrupt durch die Auswirkungen eines Polizeieinsatzes an anderer Stelle. Und einer der jungen Bewohner des Viertels wird von der Polizei erschossen. Die Trauer und Wut brauchen ein Ventil. Der Rassismus und die Willkür der Polizei sind unerträglich. Aber anders als erwartet folgt die Entladung nicht in einem großen Riot, sondern der Freund:innenkreis um Astor findet eine andere Lösung.

Die Autorin Diaty Diallo ist selbst in den Vorstädten von Paris aufgewachsen. Ihr Debütroman beschreibt eine lebensbejahende Jugend, die darunter leidet, dass sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist, die aber dennoch in ihrer großen Community zusammenhält und ihre Möglichkeiten nutzt. Vielleicht schildert Diaty Diallo diese Community etwas zu harmonisch, zu widerspruchsfrei. Ich erinnere mich an das französische Filmdrama »Die Wütenden – Les Misérables« von Ladj Ly (2019), in dem drei Polizisten auf der Suche nach einem aus dem Zirkus geklauten Löwenbaby durch eine Banlieue streifen, auf Gangster:innen, Islamist:innen und wütende Kinder treffen und in eine Spirale der Gewalt geraten, zu der sie selbst beitragen. Die Wirklichkeit ist komplexer.

Im Roman spielt Musik eine wichtige Rolle. In verschiedenen Szenen werden passende Songs sozusagen „angespielt“. Und so gibt es am Ende sogar eine Playlist mit allen Musikstücken. Überhaupt ist das Buch sehr schön durchgestaltet, mit einer interessanten Typografie, farbigen Vorsatzblättern, auch zwischen den Kapiteln, und einem neonfarbenen Umschlag.

Diaty Diallo, Zwei Sekunden brennende Luft, aus dem Französischen von Nouria Behloul und Lena Müller, 08/2023, Assoziation A, 192 Seiten, 20,00 €

Rainer Midlaszewski ist stadtpolitisch im Ruhrgebiet aktiv und Teil der Común-Redaktion.


Baustelle Commune

Henri Lefebvre und die urbane Revolution von 1871

Felix Lackus

Das Buch „Baustelle Commune – Henri Lefebvre und die urbane Revolution von 1871“ ist im Juni 2023 im adocs Verlag erschienen. Darin werden erstmals Auszüge aus Henri Lefebvres Schrift „La proclamation de la Commune“ aus dem Jahr 1965 ins Deutsche übersetzt. Laut den Herausgeber:innen Moritz Hannemann, Klaus Ronneberger und Laura Strack ist diese Schrift Lefebvres weitgehend in Vergessenheit geraten. Dem Originaltext werden noch einige kommentierende Begleittexte der Herausgeber:innen zur Seite gestellt.

Den Entstehungskontext von „Baustelle Commune“ erläutert Ulrike Haß im Vorwort mit den Aktivitäten des »Forum Freies Theater Düsseldorf«, das 2021 ein »Place Internationale« benanntes Stadtlabor organisierte. Diesen Namen gaben die Pariser Kommunard:innen dem Vendôme-Platz, nachdem sie die dort befindliche Siegessäule für Napoleon gestürzt hatten. Das Stadtlabor versuchte sich anlässlich des 150 Jahrestages der Pariser Commune auf diese zu beziehen, woraus die vorliegende Publikation hervorgegangen ist. 

Klaus Ronneberger leitet das Werk mit einer kurzen Zusammenfassung der Geschichte der Commune ein und bietet den Leser:innen damit eine solide Grundlage für die anschließenden Originaltexte von Henri Lefebvre. Mit seinem Werk „Recht auf Stadt“ (frz. Droit à la ville) ist Lefebvre Namensgeber einer vielfältigen Bewegung geworden, wenn ich auch vermute, dass nur wenige „Recht auf Stadt“-Aktivist:innen, seine Schriften tatsächlich gelesen haben. Nach der Lektüre der 150 Seiten, die aus dem ca. 450 Seiten langen Original-Text von Laura Strack ins Deutsche übersetzt wurden, verwundert das wenig. Die Autor:innen bezeichnen den Text selbst als „nicht immer gefällig“ und ja, der Text ist nicht uninteressant, aber schwer zu lesen. Die oftmals bildreiche, verschnörkelte und zuweilen pathetische Sprache Lefebvres muss man, vorsichtig formuliert, mögen und hat mir als Leser einiges abverlangt.

Vielleicht ergänzt Laura Strack deshalb ihre Übersetzung noch um einen längeren Essay, in dem sie Aufbau, Stil, Komposition und Sprache des übersetzen Textes aus ihrer Sicht erläutert oder beispielsweise über „Marx (auch) als schreibästhetischen Bezugspunkt“ referiert. Klaus Ronneberger hängt dem noch einige biographische Notizen zu Lefebvre und eine Einordnung der politischen Geschichte Frankreichs an, um den historischen Kontext der Pariser 1968er Bewegung und Lefebvres Einfluss besser verstehen zu können.

Moritz Hannemann ergänzt einen Essay, der Lefebvres Verwendung des Begriffs des Festes (frz. Fête) in Bezug auf die Commune in den Mittelpunkt stellt. Lefebvre bezeichnete die Pariser Commune als das „größte Fest des Jahrhunderts und der Neuzeit“. Hier bin ich jedoch endgültig ausgestiegen. Dieser Text scheint mir doch eher für eingefleischte Theorie-Nerds geeignet, die sich für Details der Geschichte von Lefebvre oder den Situationisten begeistern können.

Die Pariser Commune fällt in die Frühzeit der Fotografie, daher sind die Ereignisse teilweise fotografisch dokumentiert. Der Original-Text von Lefebvre enthält zahlreiche historische Fotos und weiteres Bildmaterial, das aufgrund der heutigen Verfügbarkeit im Internet in der vorliegenden Veröffentlichung ausgespart wurde. Stattdessen wurden die ursprünglich angehängten Bilder textlich beschrieben. An den Bildern war ich durchaus interessiert, aber die passenden Bilder zu den Beschreibungen im Internet herauszusuchen, habe ich als äußerst mühselig und die von den Herausgeber:innen gewählte Lösung daher als unglücklich empfunden. Stattdessen wurden dem Buch noch einige Fotografien von Jan Lemitz angefügt, die Orte des Geschehens der historischen Commune im Paris von heute zeigen. Sie wirken in ihrer Alltäglichkeit unspektakulär und bleiben leider der einzige nicht sehr gelungene Versuch des Buchs, die Pariser Commune von 1871 in einen Bezug zur Gegenwart zu setzen.

Überlegungen, wie die Geschichte und das Andenken an die Pariser Commune als wichtigste urbane Revolution der Moderne eine Inspiration für eine heutige Recht auf Stadt-Bewegung sein oder wie ein Bezug zu heutigen stadtaktivistischen Perspektiven hergestellt werden kann, fehlen leider vollständig.

Wer sich für die Geschichte der Pariser Kommune interessiert, wenig Schwierigkeiten mit komplizierten Texten hat und sich mit etwas Pathos für revolutionäre Momente der Geschichte begeistern möchte, wird in diesem Buch jedoch sicher fündig.

Felix Lackus ist Teil der Común-Redaktion.

Baustelle Commune – Henri Lefebvre und die urbane Revolution von 1871, Hg. Laura Strack, Moritz Hannemann, Klaus Ronneberger, 6/2023, adocs Produktion & Verlag, 340 Seiten, 24,00 €


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