Stadt selber machen

Der Wiener Verein »Kollektiv Kaorle« versucht mit soziokulturellen Raumaneignungen urbane Gestaltungs- und Begegnungsorte zu schaffen.

Christina Reinfant

Die Spätsommersonne scheint und der Duft von frisch gebrühten Kaffee liegt in der Luft. Im Innenhof, der von den Mitgliedern des Kollektivs liebevoll als „Lido“ bezeichnet wird, wird bei einem Nachmittagstässchen eine Partie Boccia auf einem improvisierten Sandstrand gespielt. Wie gerufen erklingen funky Melodien aus der alten Schmiede nebenan – irgendwer übt sich am Mischpult. Gegenüber in der Werkstatt findet gerade ein Bauworkshop statt, ein leises Brummen der Maschinen dringt in den Hof.

Neugierig geworden? Das hoffen wir! Dieses städtische Idyll im Herzen des Wiener Bezirks Ottakring ist der neue Vereinssitz des »Kollektivs Kaorle«. Würde dich bei einem Besuch die eben beschriebene Szene erwarten? Vielleicht. An manchen Tagen könnte es genauso sein, während der „Lido“ an anderen Tagen leer bleibt. Aber wäre es ein guter erster Eindruck gewesen, hätten wir hier zu Beginn von einem gelegentlich ungenutzten Freiraum in sachlicher Sprache erzählt? Wohl kaum.

Texte über uns in einer blumigen, romantisierten, metaphorischen und leicht intellektualisierten Sprache sollen die Fantasie anregen und zum Träumen verleiten. Sind wir die einzigen, die sich auf diese Weise selbst bewerben? Wahrscheinlich nicht. Macht es das besser – wahrscheinlich auch nicht. Aber: Nachfolgend versuchen wir es anders zu machen. Wir möchten transparent sein, unsere Arbeits- und Vorgehensweise reflektieren, uns im Diskursraum „Stadt machen“ einordnen und das alles mit euch teilen.

Zu Beginn noch ein paar Worte zu uns: Wir sind das »Kollektiv Kaorle – Raum für soziokulturelle Produktion und Begegnung«, ein gemeinnütziger Kulturverein aus Wien, der 2020 gegründet wurde. Das Team ist multidisziplinär tätig und mit unterschiedlichen Kompetenzen und Eigenschaften ausgestattet: Wir sind unter anderem Architekt:innen, Künstler:innen, Kurator:innen, Umweltwissenschaftler:innen, Informatiker:innen und Pädagog:innen. Vielfalt ist unsere Stärke – ja, tatsächlich! – und die Schwerpunkte unserer Arbeit liegen in der Kulturarbeit und in der handwerklichen Arbeit. Außerdem beschäftigen wir uns intensiv auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Thema Raum: Wir erschließen, kuratieren und bieten Raum, nutzen ihn selbst und bespielen ihn. Zudem teilen wir die erschlossenen Räume mit anderen Akteur:innen und bieten sie kostengünstig externen Initiativen für Veranstaltungen und eigene Projekte an.

Kaorle ist ein lebendiger Ort, ein Raum für Begegnung, Austausch und kollektives Handeln.

Als Kulturverein wollen wir einen niederschwelligen, von Konsumzwang befreiten Raum für Kultur, Bildung und gesellschaftliches Engagement schaffen. Wir laden zum Verweilen und Kurzurlauben am „Lido“, zum kreativen Werkeln und zum Kulturprogramm ein. Kaorle ist ein lebendiger Ort, ein Raum für Begegnung, Austausch und kollektives Handeln. Als sozialer Treffpunkt für das „Grätzl“, also dem Quartier oder Kiez, und als Teil der »Grätzlinitiative Ottakring« steht er der Nachbarschaft und allen Menschen offen. Wir möchten dazu beitragen, dass sich Menschen im Bezirk vernetzen und austauschen, tätig werden und Ideen gemeinsam umsetzen.

Doch die Langlebigkeit des Grätzltreffs ist nicht selbstverständlich. Sie hängt maßgeblich mit der Finanzierung des Projekts zusammen. Momentan finanziert sich der Verein hauptsächlich über Mitgliedsbeiträge und Förderungen der Wirtschaftsagentur Wien sowie der Stadt Wien. Dabei handelt es sich unter anderem um Einzelförderungen wie der »Creatives for Vienna 2023 making spaces« oder der Bezirkskulturförderung. In der Vergangenheit konnte der Verein mit der städtischen Jahresförderung für Kulturinitiativen ein breites kostenloses Kulturangebot organisieren. Da aktuell keine Förderung hierüber erfolgt, müssen sich Veranstaltungen selbst tragen. Für die anfallende Arbeit bei Veranstaltungen werden Aufwandsentschädigungen ausgezahlt. Gleiches gilt auch für die Mitarbeit in fortlaufenden Projekten sowie für die Vereinsarbeit. Der Kulturstandort hängt aktuell also stark von Fördertöpfen, unbezahlter Arbeit und der Leidenschaft zum Projekt ab. Vor allem die Liebe und Leidenschaft für das Projekt und für unsere Arbeit lassen uns gerne mal die äußeren Umstände vergessen – auf Dauer muss jedoch ein anderes Finanzierungsmodell her.

Unsere Aktivitäten beschränken sich nicht nur auf Ottakring, auch außerhalb unseres Grätzls gefällt es uns gut – insbesondere im öffentlichen Raum. Ein aktuelles Beispiel ist das laufende Projekt »Paradiesl«, eine Installation, die am »Alsergarten«, einem Gemeinschaftsgarten am Donaukanal, entsteht. Hier wird der Garten in einem partizipativen und möglichst niederschwelligen Prozess umgestaltet und seine Infrastruktur erweitert: Zuerst wurden Bedarfe ermittelt und im Anschluss daran bauliche Elemente konzipiert. Momentan werden diese gebaut und bald soll die öffentliche Installation bespielt und genutzt werden. Schon während der ersten Projekte haben wir uns eine eigene Praxis angeeignet: die „Baustelle“ als Werkzeug und Arbeitsmethode. Wir verstehen Baustellen nicht nur als notwendiges Übel (vor der eigenen Haustüre), sondern auch als Orte des Austausches und der Partizipation. Gemeinsames Entwerfen, Hämmern und Sägen, nach dem Prinzip des „Learning by Doing“, stehen im Mittelpunkt. Zusammen wollen wir von- und miteinander lernen und an den „FLINTA*-Bautagen“ FLINTA*-Personen die Möglichkeit bieten, sich in einem geschützten Raum am Bauen auszuprobieren.

Als bunte Gruppe haben wir unterschiedliche Blickwinkel auf die Stadt und auf das „Stadt machen“. Wir begeben uns zunächst nicht aktiv in stadtpolitische Konflikte. Uns verbindet vielmehr das Interesse, Teil der Stadtgemeinschaft zu sein und das Gemeinsame zu betonen. Wir möchten den öffentlichen Raum gestalten und bespielen und so zu einer bunt(er)en Stadt und einem besseren Zusammenleben beitragen.

Wir sind uns bewusst, dass der Akt des „Stadt selber machens“ im Laufe des Prozesses eine politische Dimension annehmen kann. Wir schließen politische Effekte nicht aus und sind offen für politische Diskussionen und politisierende Wirkungen – aber das ist oft nicht unser primäres Ziel zu Beginn eines Projekts. Wer jetzt das Gefühl bekommen hat, dass unsere Herangehensweise Stadt zu machen, selbstbezogen und hedonistisch ist und langfristig nicht viel bewegen kann – das können wir nachvollziehen. Wir glauben jedoch, dass dies nicht der Fall ist.

Unsere Arbeits- und Vorgehensweise ist politischer als wir anfangs dachten, und erfordert ein gewisses politisches Interesse. Im Team des Kollektiv Kaorle verstehen sich die meisten durchaus als politisch. Und so folgt auch der Verein politischen Grundsätzen: Diskriminierungen jeglicher Art werden nicht geduldet und eine feministische Auseinandersetzung mit und in unserer Arbeit ist uns wichtig. Diese Haltung spiegelt sich in unserem Handeln und in unserem Blick auf Stadt wider.

Obwohl wir uns bisher noch keiner konkreten Stadt- oder Protestbewegung, wie zum Beispiel der Recht auf Stadt-Bewegung, angeschlossen haben, schließen wir das in Zukunft nicht aus. Denn die aktive Gestaltung des öffentlichen Raums ist ein bewusster Eingriff, der eine gewisse Form der (Raum-)Aneignung darstellt. Sie fordert ein, am (Stadt-)Raum teilzuhaben, mitzubestimmen und sichtbar zu sein. Und auch mit städtischen sozialen Bewegungen haben wir mehr gemein als ursprünglich angenommen. »Kaorle« und die genannten Bewegungen verbindet die (Wieder-)Aneignung von Raum in gemeinschaftlicher, selbst organisierter und solidarischer Praxis. In puncto Raumaneignung unterscheiden sich jedoch unsere Praktiken von denen sozialer Bewegungen. Während soziale Bewegungen oftmals eher konfrontativ und am Rande der Legalität agieren, gehen wir hingegen legalen Raumnutzungen nach – irgendwie fast schon konservativ.

Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, dass die Stadt Wien uns ihre Flächen ohne einen mehr oder weniger mühseligen Aushandlungsprozess zur freien Bespielung überlässt. Im Gegenteil, wir stehen in ständigem Austausch mit städtischen Behörden und stellen Fragen wie „Wem gehört der öffentliche Raum?“, „Wer nutzt ihn?“ oder „Was dürfen Bürger:innen in ihrer Stadt einfordern?“.

Zum Schluss ein kleiner Rückblick: Unsere Art Stadt zu machen ist politischer als wir in unserer eigenen Öffentlichkeitsarbeit meist nach außen tragen. »Kaorle« ist vielseitig, offen und profitiert von seiner Niederschwelligkeit. Die Aufmerksamkeit, die der Verein »Kollektiv Kaorle« generiert, wächst. Sicherlich trägt dazu bei, dass wir „Stadt machen“ nicht primär als politische Praxis verstehen, uns aber auch nicht davor verschließen. Wir versuchen mit Freude und Leichtigkeit die eigene Stadt selbst zu entdecken und zu gestalten und so einen politischen Mehrwert in der konkreten Praxis entstehen zu lassen. Wir finden die Vielfalt im Diskursraum „Stadt machen“ enorm wichtig – von „rein aus Spaß“ bis zu politischen Stadtinterventionen. Wenn mehr Menschen sich ermutigt fühlen, den öffentlichen Raum zu nutzen und selbst zu gestalten, ist viel gewonnen. So können wir gemeinsam zu einem kollektiven politischen Bewusstsein beitragen. Die Stadt gehört ja nun mal uns allen!


Autorin

Christina Reinfant ist Praktikantin beim Kulturverein »Kollektiv Kaorle« und studiert in Weimar Urbanistik. Der Text basiert auf Material des Vereins sowie auf gemeinsamen Gesprächen. Beteiligt war Sarah Klimbacher.


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Titelbild

Baustellentag im neuen »Kaorle« in Ottakring im Mai 2023 | Foto: © Sarah Klimbacher


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