Stadtpolitik am Kipppunkt

Warum eine solidarische Klimapolitik eine Ausweitung städtischer Beteiligungspolitik erfordert

Anton Brokow-Loga

Kipppunkte spielen in der Klimadebatte eine große Rolle – bisher geht es dabei aber meist um die biophysikalischen Kipppunkte im Erdsystem. Ob Permafrostboden, Regenwald oder Eisschilde: Ab einer bestimmten Erwärmung werden an diesen Orten Punkte überschritten und es setzt ein schneller, unaufhaltsamer Veränderungsprozess des Weltklimas ein. Gletscher schmelzen dann ab oder Regenwälder verwüsten, ohne dass Menschen auch nur in irgendeiner Weise in diese Prozesse eingreifen könnten.

Das Konzept der Kipppunkte kann jedoch mehr, als uns nur deprimierende Zukunftsaussichten zu bescheren. Denn soziale Systeme funktionieren zwar ganz anders, doch auch hier lassen sich Kipppunkte feststellen. Ein Team um die Soziologin Ilona Otto argumentiert in einer Studie [1], dass sechs Systeme zum Kippen gebracht werden müssen, um die Welt bis spätestens 2050 klimaneutral zu machen. Damit soziale Bewegungen strategisch handeln und transformativ wirken, lohnt es sich, Kräfte auf diese Kipppunkte zu bündeln, die dann wiederum andere Systeme beeinflussen.

Zu den Kipppunkten mit der schnellsten Wirkung zählen neben der Abschaffung von staatlichen Subventionen für fossile Konzerne und Divestment auf den Finanzmärkten auch CO²-neutrale Städte. So weit, so klar für stadtpolitische Aktivist:innen. Doch wenn es um die Wege geht, dieses Ziel zu erreichen, wird in Plena, Verwaltungsbüros, Bauausschüssen oder Stadträten landauf und landab direkt über den städtischen Umbau geredet: Solar-Paneele auf jeden Balkon, Elektrobusse für die Stadtwirtschaft, Wärmepumpen für die Neubaugebiete.

Die Umsetzung dieser Agenda liegt dann unter anderem bei sogenannten Klimamanager:innen, die – häufig auf befristet geförderten, an die Verwaltung angedockten Stellen sitzend – dann bitte auch noch das „Umdenken“ in der Bevölkerung anregen sollen: Flyer gegen Steingärten hier, Anmeldung für das Stadtradeln dort. Wir sehen, dass der Umbau der materiellen Infrastrukturen (Häuser, Straßen, Energiesystem) und das Verschieben mentaler Infrastrukturen (unsere Wünsche, Träume, Gewohnheiten) im Mittelpunkt stehen. Doch die politischen Infrastrukturen – also beispielsweise die Art und Weise der kommunalen Entscheidungsfindung – bleiben dabei außen vor.

Es ist gelinde gesagt ein Wunschbild, dass der so bedeutsame Kipppunkt städtischer Klimatransformation durch diese verstreuten, meist technik-orientierten Maßnahmen getriggert werden kann. Gleichzeitig ist es kein Zufall, dass in den kommunalen Konzeptpapieren und Maßnahmenkatalogen immer wieder die nötigen institutionellen Neuerungen ausgeklammert werden: Das kommunale System der Entscheidungsfindung und Planung ist auf enge Weise mit den Matadoren der neoliberalen Stadtentwicklung verknüpft. Für diese ist die Wachstumslogik – und damit Gewinnmaximierung und Flächenfraß, Privatisierung von Gewinnen und Vergesellschaftung von Verlusten – derart unverhandelbar, dass es fast töricht erscheint, nicht zuvorderst die kommunale Demokratie auf den Prüfstand stellen zu wollen. Was bedeutet „System Change, not Climate Change“ für die Demokratisierung von Städten und Gemeinden? Wie und wann „kippt“ das System?

In den letzten Jahren sind vielerorts zaghafte Ansätze entstanden, die sich diesen Fragen auf neue Weise widmen. Dazu zählen zum Beispiel umfangreiche Beteiligungsverfahren für Klimaschutzkonzepte und Fahrpläne zur Klimaneutralität, Klimabeiräte in beratender Funktion für die Gremien der Stadt, Volksentscheide, geloste Bürger:innenräte, anlassbezogene Quartiersversammlungen [2]. Oft ist es auch eine Kombination dieser institutionellen Experimente oder Erweiterungen, die das Spannungsfeld Demokratie und Klima in der heutigen Stadtpolitik neu bestimmt hat.

Manch hartgesottene Recht-auf-Stadt-Aktivistin muss an dieser Stelle vielleicht gähnen. Denn diese Ansätze, die manchmal unter dem Stichwort der „demokratischen Innovation“ vermarktet werden, werden von aktivistischer Seite schon seit Jahrzehnten eingefordert, organisiert und gelebt. Wie in der Recht-auf-Stadt-Debatte, so geht es auch in der Klimadebatte im Kern um die grundlegende Transformation der kapitalistischen Lebensweise. Progressiver stadtpolitischer Aktivismus stellt seit jeher die Frage in den Mittelpunkt, wie ein gelingendes Zusammenleben ohne Diskriminierung oder Wachstumszwänge erstritten werden – und wie dieses basisdemokratisch organisiert und aufrechterhalten werden kann.

Nur durch Aneignung der gesellschaftlichen Institutionen und Verwirklichung radikaler Demokratie, insbesondere auf Ebene der Stadt und der Quartiere, lässt sich Gestaltungsraum für progressive, sozial-ökologische Bündnisse schaffen.

Dennoch kann die stadtpolitische Bewegung einiges aus den demokratischen Experimenten und Erweiterungen in der kommunalen Klimapolitik lernen. Darüber hinaus ist es wichtig, die Erfahrungen aus verschiedenen Spektren der Recht-auf-Stadt-Bewegung auch in diese Ansätze hineinzutragen – insbesondere, wenn darum geht, diese Prozesse weiter zu entwickeln und machtkritisch zu fundieren. Dafür sehe ich vier Fragen als wesentlich an.

Erstens: Geht es hier um Beteiligung und auch Teilhabe an Handlungsmacht – oder eher um partizipative Politikberatung? Der Klimabürger:innenrat Berlin, auf den Weg gebracht von der Volksinitiative »Klimaneustart Berlin«, ist dafür ein gutes Beispiel: Von Expert:innen beraten, suchten 100 zufällig ausgeloste, repräsentative Personen nach gerechten Klimaschutzmaßnahmen. Wie schon bei anderen Bürger:inneräten anderswo waren die Antworten erstaunlich: radikal emissionsfreie Innenstadt ab 2030, Sanierungspflicht, Verbot von Gasheizungen ab 2035. [3] Doch zum Schluss pickte sich der Senat die Rosinen heraus und die wirklich wirksamen und tiefgreifenden Maßnahmen blieben natürlich in der Schüssel liegen. Dies macht deutlich, dass solange keine konkrete Handlungsmacht umverteilt wird, Bürger:innen-Räte bedeutungslos bleiben müssen.

Zweitens: Handelt es sich um ein temporäres Projekt oder werden hier langfristig neue Formate der Beteiligung eingerichtet? Wie gelingt es, in der drängenden Transformationsfrage sogar beides miteinander zu verbinden? Regelmäßigkeit und Dynamik verbinden die Klimawerkstätten und -räte in Marburg die wesentliche Elemente einer partizipativ erarbeiteten neuen „Klimagovernance“ bilden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auch auf der Frage, wie formelle und informelle Schnittstellen zwischen der Verwaltungs- und der Initiativenlandschaft gestaltet sein können, gerade wenn weder Verwaltung noch „Zivilgesellschaft“ als einzelne, einheitliche Akteure gelten können. Klimawerkstätten sollen vor allem den fachlichen Austausch zu einzelnen Fragen des Klimaschutzes fördern und sich unter anderem mit Fragen der Wärmeversorgung und energetischen Sanierung befassen, außerdem mit Ernährung und lokaler Nahrungsproduktion oder mit Klima- und Nachhaltigkeitsbildung.

Drittens: Werden strukturelle Benachteiligungen und Ressourcenfragen adressiert oder sind die, die kommen, automatisch „die Richtigen“? Auch die Menschen, die an runden Tischen Klimafragen diskutieren können, sind oft älter, männlich, weiß, cis. Demgegenüber müsste eine der Baselines sein: Weder Klimaschutz noch Beteiligung muss man sich leisten können. Daher sind eine diskriminierungssensible Praxis sowie Räume der ständigen Reflexion kommunaler Beteiligung gefragt. Der Beteiligungsrat in Potsdam bietet dabei einen spannenden Ansatz: Die 13 gelosten Sitze im Beteiligungsrat werden anteilig an Frauen, Männer und diverse Menschen vergeben, migrantisierte Menschen haben Vorrang, überdies gibt es einen festen Jugendsitz. Gar nicht so trivial: Die Mitglieder erhalten eine Aufwandsentschädigung. In öffentlichen Sitzungen des Rats werden aktuelle Beteiligungsprozesse diskutiert und die örtliche Beteiligungskultur kritisch evaluiert. Wie diese Kritik, beispielsweise am städtischen Bürger:innen-Haushalt, jedoch umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt.

Viertens: Wird mit den neuen Beteiligungsformaten dem Rechtspopulismus Tür und Tor geöffnet oder die Demokratie gar „wehrhaft“? Full disclosure: Diese Zeilen werden in Thüringen verfasst, wo die faschistische Landnahme in Städten und Gemeinden längst fürchterliche Realität ist. Die Abwehr der autoritären und rechtspopulistischen Kräfte darf allerdings nicht in die Falle tappen und einer Entdemokratisierung das Wort reden. Nur durch Aneignung der gesellschaftlichen Institutionen und Verwirklichung radikaler Demokratie, insbesondere auf Ebene der Stadt und der Quartiere, lässt sich Gestaltungsraum für progressive, sozial-ökologische Bündnisse schaffen [4].

Es gäbe noch viel mehr zu schreiben, zum Beispiel auch zur Beteiligung nicht-menschlicher Akteure an der Stadt. Wie können wir vor Vertrocknung bedrohte Laubbäume, austrocknende Flussbetten oder aussterbende Laufkäfer in Entscheidungsfindungen einbeziehen? Oder: Wie können die Rechte zukünftiger Generationen experimentell in Beteiligungsformaten dargestellt werden? Das Spannungsfeld zwischen einem kippenden planetaren Klima und zeitgleich kippenden Stadtgesellschaften ist riesig. Schreibt mir gern von euren Erfahrungen mit stadtpolitischen Beteiligungsprozessen und -formaten in der Klimakrise. Wie könnte dieser Text auch anders schließen als mit einem Aufruf zur Beteiligung?


Weiterlesen

[1] Ilona Otto et al. (2020): Social tipping dynamics for stabilizing Earth’s climate by 2050. PNAS 117/5.
[2] Überblicke über Klima-Begehren und -Entscheide bieten die Bündnisse Klimawende von unten sowie German Zero.
[3] „Gemeinsam in eine klimaneutrale Zukunft“ – Berlin Institut für Partizipation
[4] Methoden dafür bietet unser Strategiehandbuch: „Die Welt auf den Kopf stellen“. Online verfügbar unter: I.L.A. Kollektiv


Autor

Anton Brokow-Loga ist Stadtforscher, Aktivist und Stadtrat in Weimar. Er laboriert an der Bauhaus-Universität Weimar, mit dem I.L.A. Kollektiv und neuerdings auch mit dem Team der Stadtverwicklung zwischen Theorie und Praxis der Stadt für alle. E-Mail: anton@stadtverwicklung.de


Titelillustration

© Rainer Midlaszewski


Inhaltsverzeichnis