Toolbox: Nachbarschaften organisieren

Wie geht Community Organizing?

Hannes Strobel

Community Organizing beschreibt die Methode, um in einer Nachbarschaft eine Gemeinschaft aufzubauen, die für ihre Interessen eintreten kann. Ursprünglich in den USA entstanden wird diese Methode zunehmend auch bei uns genutzt, um Mieter:innen dabei zu unterstützen, sich zusammenzuschließen und sich gemeinsam gegen Mieterhöhungen, Verdrängung oder andere Probleme zu wehren. Insbesondere Mieter:innen jenseits der Mittelschicht können so ermächtigt und sprechfähig gemacht werden. Das tolle an Commuity Organizing ist: Jede:r kann es lernen!

Hier wird ein Werkzeugkasten für CommunityOrganizing vorgestellt, der von der »AG Starthilfe«, der Organizing-Arbeitsgruppe von »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« in Berlin, entwickelt wurde. Ausführlich könnt ihr das alles in der Broschüre „Zusammentun: Wie wir uns gemeinsam gegen den Mietenwahnsinn wehren können“ nachlesen. Einige Mitglieder der »AG Starthilfe« waren oder sind in Mieter:inneninitiativen aktiv, andere verfügen über Erfahrungen in gewerkschaftlichen Organizing-Projekten. Ihr gesammeltes Wissen ist in die Broschüre eingeflossen. Das Konzept der »AG Starthilfe« ist für alle Auseinandersetzungen mit Vermieter:innen nutzbar, egal ob sie ein einzelnes Haus besitzen oder eine ganze Siedlung. Es umfasst im Wesentlichen sieben Schritte:


1. Ein Organizing-Team bilden

Ihr wollt Mieter:innen dabei unterstützen sich zusammenzutun, in eurer eigenen Nachbarschaft oder dort, wo ihr selbst nicht wohnt? In jedem Fall empfiehlt es sich ein Organizing-Team von mindestens 3–5 Leuten zu bilden, denn ganz alleine werdet ihr es nicht schaffen. Diese Gruppe sollte sich vornehmen einige Monate an dem Projekt dranzubleiben, denn für Community Organizing braucht es einen längeren Atem als für andere Formen des Aktivismus. „Bilden“ solltet ihr euch auch in einem weiteren Wortsinn. Habt ihr selbst noch keine praktische Organizing-Erfahrung, ist es empfehlenswert, euch von Gruppen aus eurer Nähe mit mehr Erfahrung beraten zu lassen. Wenn ihr euch sicher genug fühlt loszulegen, gilt es einen groben Plan zu machen. Wo genau wollt ihr mit Organizing loslegen? Wer sind eure Verbündeten (etwa andere stadtpolitische Gruppen oder der Mieterverein)? Welches sind eure Ziele?


2. Anliegen identifizieren durch Haustürgespräche

Das Gespräch mit den Nachbar:innen steht immer am Anfang einer gemeinsamen Organisierung. Im direkten Gespräch könnt ihr herausfinden: Was bewegt die Nachbar:innen?Was sind ihre Anliegen? Worüber regen sie sich auf? Was macht sie wütend? Und vor allem: Welche Probleme haben sie mit den Vermieter:innen? Dadurch kann eine gemeinsame Perspektive aufgezeigt werden: »Zusammen können wir was ändern!« Diese direkte Kontaktaufnahme an der Wohnungstür nennt sich „Haustürgespräch“. Es ist ganz normal aufgeregt zu sein, bevor man das erste Mal an einer fremden Tür klingelt. Es hilft die Fragen aufzuschreiben, die man den Nachbar:innen stellen will. Außerdem ist es sinnvoll, noch einmal ‚auf dem Trockenen‘ zu üben, bevor es richtig losgeht. Bei Haustürgesprächen gilt die goldene Regel: 70 Prozent zuhören, 30 Prozent reden. Es sollten offene Fragen gestellt werden, durch die möglichst viel über die Sichtweise und Probleme der Nachbar:innen erfahrbar wird (zum Beispiel: „Was bedeutet die Modernisierungsankündigung für Sie persönlich?“). So entsteht Vertrauen.

Bei den Haustürgesprächen solltet ihr die Kontakte der Nachbar:innen sammeln. Fragt nicht nur nach der E-Mail-Adresse, sondern auch nach einer Telefonnummer. Viele Menschen benutzen keine E-Mail. Zudem ist E-Mail-Verkehr viel unverbindlicher als ein Telefongespräch. Zu zweit machen die Haustürgespräche nicht nur mehr Spaß, sondern ihr könnt euch sehr gut ergänzen und voneinander lernen. Vor allem gemischte Teams sind erfolgreich, zum Beispiel: jung und alt, Frau und Mann, deutschsprachig und türkischsprachig, Anwohner:in und Nicht-Anwohner:in, erfahren und unerfahren. Es ist hilfreich, nach jedem Gespräch eine kleine Notiz zu machen: »Will zur Versammlung kommen«, »Hat keine Zeit, will aber das nächste Mal kommen«, »Hat kein Problem mit Schimmel, aber undichte Fenster« etc. Das dient nicht nur als Gedächtnisstütze, sondern verschafft auch einen Überblick, welche Probleme vereinzelt und welche gehäuft auftreten.


3. Versammlungen und Kernaktivengruppe

Für eine schlagkräftige Mieter:innengemeinschaft hat sich eine Doppelstruktur bewährt. Einerseits sollte es Mieter:innenversammlungen geben, zu denen die gesamte Nachbarschaft eingeladen wird. Hier werden die brennenden Themen besprochen und beschlossen, wie ihr zusammen vorgeht. Andererseits braucht es einen aktiven Kreis (Aktivengruppe), der auch zwischen den Versammlungen viele Aufgaben übernimmt.

Die Mieter:innenversammlung sollte gut vorbereitet werden. Als erstes braucht ihr einen gut erreichbaren Raum. Zeitmangel ist ein großes Problem für viele, weshalb die Treffen nicht sehr lang sein sollten. In der Regel reichen zwei Stunden für das erste Treffen völlig aus. Es sollte an Nachbar:innen gedacht werden, die sich mit der deutschen Sprache unsicher fühlen und falls nötig eine Übersetzung organisiert werden. Jede Versammlung braucht eine Moderation, die für den geregelten Ablauf des Treffens sorgt, die Themen und den Ablauf vorstellt, eine Redner:innenliste führt und dafür sorgt, dass alle Redner:innen respektvoll sind und beim Thema bleiben.

Meistens gibt es einen konkreten Anlass für das Treffen, wie etwa eine Modernisierungsankündigung oder Mieterhöhungen. Dieses Thema sollte im Mittelpunkt stehen. Ziele sind: sich gemeinsam auf einen Informationsstand bringen, die gemeinsame Betroffenheit hervorheben und sich gegenseitig vergewissern, dass nun begonnen wird, sich zu organisieren und sich zu wehren. Es sollte gemeinsam ein langfristiges Ziel festgelegt werden. Es gilt zu überlegen, was die Einzelschritte dahin sind und welche Bedeutung sie haben. Was also sind die Probleme/Ziele, die die Gruppe gemeinsam angehen will? (z.B. Kampf gegen Sanierungsstau). Damit nicht alles Gesagte verpufft, sollten konkrete Verabredungen getroffen und ein Folgetermin ausgemacht werden.

Die Kernaktivengruppe bereitet die Mieter:innenversammlungen vor und entscheidet welche Themen besprochen werden. Es sollte darauf geachtet werden, dass der Kreis offen bleibt und Nachbar:innen, die sich mehr einbringen möchten, dazu die Möglichkeit haben. Es hat sich zudem bewährt, dass die Aktivengruppe erste Ansprechmöglichkeit für Leute von außen ist. Das können Politiker:innen, der:die Vermieter:in oder die Presse sein. Die Gruppe muss für sich klären, an wen sich Außenstehende wenden können, und sie muss dies an die Nachbar:innen und nach außen sichtbar machen. Diese Aufgabe sollte nicht an einer Person hängen! Die Notwendigkeit und Bedeutung einer solchen Kerngruppe hängt auch von der Größe der Versammlungen ab. Je größer sie sind, umso wichtiger ist eine gute Vorbereitung durch einen kleinen Kreis.


4. Überblick behalten

Eine Mieter:innengemeinschaft kann sich nur durchsetzen, wenn möglichst viele Mieter:innen an einem Strang ziehen und eingebunden sind. Dafür ist es zentral, dass man schnell Kontakt miteinander aufnehmen kann. Auch deshalb sollte bei jeder Versammlung eine Liste rumgehen, in die alle ihre Kontaktdaten (Adresse, Telefon, E-Mail) eintragen, die zum ersten Mal teilnehmen. Die Kontaktliste, die die Kernaktivengruppe mit den Kontaktdaten der Nachbar:innen erstellt, enthält persönliche Daten. Es ist es sinnvoll, sie nach Häusern zu sortieren. Neue Mitstreiter:innen werden hier nach jeder Versammlung eingetragen. Auf Versammlungen sollte dieses Verfahren für alle Nachbar:innen transparent sein. Es sollte auch erläutert werden, warum ihr das tut und was mit den Daten passiert. Bei größeren Siedlungen sollte versucht werden, mindestens eine Ansprechperson pro Haus zu finden und Verantwortliche festzulegen, die sich um den Kontakt zu den noch fehlenden Häusern kümmern.

Ein weiteres Mittel für einen guten Überblick ist die Organisierungslandkarte. Dafür braucht ihr ein möglichst großes Stück Papier, die Rückseite eines Plakats oder eine Papierrolle. Darauf werden grob die Häuser in der betroffenen Nachbarschaft aufgemalt. Noch vor Beginn, am Besten direkt beim Ankommen, schreibt jede:r Teilnehmer:in ihren:seinen Namen auf einen Klebezettel und klebt diesen zu dem Haus, aus dem er:sie kommt. Es geht darum, zu jeder Zeit für alle sichtbar zu machen, wer alles schon mitmacht, wer schon angesprochen wurde, aber auch aus welchen Häusern, Aufgängen oder Etagen noch Nachbar:innen fehlen. Auf jeder Versammlung wird die Karte aufgehängt. Wenn am Ende der Versammlung Verabredungen getroffen werden, wie zum Beispiel, dass bestimmte Infos an die Nachbarschaft verteilt werden, sieht man auf der Karte, aus welchen Häusern jemand anwesend ist, die:der das übernehmen kann. Es ist immer motivierend, wenn am Ende einer Versammlung für alle sichtbar festgehalten wird, wer welche Aufgaben übernimmt.


5. Weiterbildung

Nicht alle Mitglieder einer Mieter:innengemeinschaft wissen über alles Bescheid und haben alle Fähigkeiten, die es braucht, um zum Beispiel eine Versammlung zu leiten oder für die Gruppe in der Öffentlichkeit zu sprechen. Das muss nicht so bleiben. Wo es Bedarf gibt, sollten Bildungsangebote organisiert werden. Zum einen Formate, die eher auf eine Wissensvermittlung abzielen, etwa zu Grundlagen des Mietrechts oder der Wohnungspolitik. Zum anderen Formate, die die Vermittlung von konkreten Fähigkeiten im Blick haben, wie etwa Medientrainings oder Moderationsworkshops.


6. Gemeinsame Aktionen

Gemeinsame Aktionen sind dafür da, gemeinsam etwas zu erreichen. Um eine passende Aktion zu entwickeln, ist es hilfreich, sich die folgenden Fragen zu stellen: Was ist das Ziel eurer Aktion? Gibt es vielleicht mehrere Ziele? Soll Kontakt zu mehr Nachbar:innen hergestellt werden, sodass mehr bei der Gruppe mitmachen oder sie unterstützen? Oder soll Druck auf den Vermieter gemacht werden, damit er eine Mieterhöhung zurücknimmt oder endlich die vielen Mängel an den Gebäuden repariert? Soll Druck auf die Politik, auf Bezirks-, Senats- oder Bundesebene gemacht werden, um sie zum Handeln zu bewegen? Oder soll gefeiert werden, was erreicht wurde? Die Gruppe entscheidet, welches gerade die wichtigsten Ziele für sie sind und welche Aktion dazu passt.

Mit Aktionen können auch mehrere Ziele gleichzeitig erreicht werden: Eine Demonstration kann gut dafür sein, um Aufmerksamkeit in der Presse und in der Nachbarschaft zu erzeugen und sie kann gleichzeitig der Gruppe Spaß, Zusammenhalt und einen Energieschub geben, einfach weil etwas zusammen auf die Beine gestellt wird. Unterschriften für eine Petition zu sammeln, kann auch ein guter Anlass sein, mit Nachbar:innen ins Gespräch zu kommen usw. Überlegt euch bei Aktionen auch, wer eure Gegner und wer mögliche Verbündete sind. Wenn ihr eine breite und starke Basis schafft und Bündnispartner:innen findet, dann könnt ihr auch die harten Nüsse knacken!


7. Feiern!

Feiern ist sehr wichtig. Jeden kleinen Erfolg und jede neue Erfahrung! Einfach, dass wir es versucht haben! Die meisten Auseinandersetzungen mit Vermieter:innen und politischer Organisierung dauern länger, als man denkt. Gemeinsam feiern liefert auch wichtige Energie, um weiterzumachen.


Autor

Hannes Strobel engagiert sich seit vielen Jahren in der stadtpolitischen Bewegung, derzeit in der AG-Starthilfe der Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« in Berlin.

Die AG Starthilfe ist die Organizing AG der Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« in Berlin. Ihr erreicht sie unter starthilfe@dwenteignen.de. Die Zusammentun-Broschüre kann hier heruntergeladen werden unter.


Weiterlesen

Landauf, landab arbeiten immer mehr Initiativen mit Methoden des Community Organizing. In »Común« reflektieren sie regelmäßig ihre Erfahrungen, etwa die Organisierung von Vonovia-Mieter:innen in Leipzig-Schönefeld (Comun #2 2019), in Beständen eines teilprivatisierten Wohnungsunternehmens in Jena-Lobeda (Comun #3 2020) oder von LEG-Mieter*innen in Münster (Comun #5 2021).

Das Buch „Community Organizing. Zwischen Revolution und Herrschaftssicherung“ im Verlag Edition Assemblage, Münster aus dem Jahr 2014 des Politikwissenschaftlers Robert Maruschke hat sich als Standardeinführung im deutschsprachigen Raum etabliert hat. Darin wird auch die Herkunftsgeschichte in den USA beleuchtet.

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