Im Hamburger Stadtteil St. Pauli fand zwischen 2014 und 2020 ein großes Experiment statt: selbstorganisierte Stadtteilversammlungen mit bis zu 1.200 Teilnehmer:innen. Eine Rückschau.
Niels Boeing
St. Pauli, Anfang 2014. Der ganze Stadtteil ist zum „Gefahrengebiet“ erklärt worden, rund um die Uhr kontrolliert die Polizei anlasslos die Bewohner:innen. Zwei Wochen zuvor sind aus fragwürdigen Gründen die Esso-Häuser am Spielbudenplatz, neben der Reeperbahn, evakuiert, ihre Bewohner:innen mitten in der Nacht aus den Wohnungen geholt worden. Kurz vor Weihnachten ist eine Demonstration zur Unterstützung der Esso-Häuser-Bewohner:innen, aber auch der Geflüchteten-Initiative »Lampedusa in Hamburg« sowie der von Räumung bedrohten Roten Flora von der Polizei gestoppt und zerschlagen worden. Es brodelt im Stadtteil, die Wut ist so groß wie seit 2002 nicht mehr, als der rechte Innensenator Ronald Schill den Bauwagenplatz »Bambule« räumen ließ.
Aber anders als 2002, sind wir zwölf Jahre später besser vernetzt im Stadtteil. Die Zumutungen einer rasanten Gentrifizierung in den vorherigen Jahren haben viele aufgerüttelt: Abrisse, drastisch anziehende Mieten, Bauspekulationen oder die Drangsalierung von Geflüchteten waren schon übel. Aber jetzt, in diesen Januar-Tagen, ist das Grundgefühl: Es reicht. Wir müssen uns versammeln. Am besten alle miteinander, wenn das denn geht.
In St. Pauli geht es, weil der FC St. Pauli über einen großen Saal verfügt, in den Hunderte reinpassen, und seine Verbundenheit mit dem Stadtteil nicht nur ein Lippenbekenntnis ist. Am 8. Februar 2014 versammeln sich etwa 450 St. Paulianer:innen im Ballsaal des Millerntorstadions, der Verein hat ihn uns mietfrei überlassen. Es ist die erste Stadtteilversammlung, der bis zur Pandemie noch zehn weitere folgen sollten.
Und nun: eine selbstorganisierte Stadtteilversammlung. Als Akt der Selbstermächtigung. Auf der mehrstündigen Versammlung bereden die St. Paulianer:innen, was falsch läuft, was nicht mehr akzeptabel ist. Wir verabschieden eine Resolution, die wir „Ballsaal-Resolution“ nennen.
Wir haben die Bezeichnung „Stadtteilversammlung“ damals bewusst gewählt. Sie sollte zeigen, dass in der Hansestadt etwas fehlt: eine politische Institution unterhalb der Ebene der Bezirke, in den Stadtteilen; eine Institution, die mehr ist als nett gemeinte Quartiers- oder Sanierungsbeiräte. Die gab es schon seit Jahren. Aber alles, was sie beschlossen, waren nur Empfehlungen an die jeweiligen Bezirksversammlungen. Die konnten sich damit befassen, mussten es aber nicht.
Und nun: eine selbstorganisierte Stadtteilversammlung, als Akt der Selbstermächtigung. Auf der mehrstündigen Versammlung bereden die St. Paulianer:innen, was falsch läuft, was nicht mehr akzeptabel ist. Wir verabschieden eine Resolution, die wir „Ballsaal-Resolution“ nennen, in bewusster Anspielung an den Ballhaus-Schwur von 1789, dem die Französische Revolution folgte. Das mag etwas dick aufgetragen klingen, aber die Überzeugung von vielen von uns war: Wir müssen hier etwas Neues beginnen.
Die Politik hat das damals ziemlich gut verstanden und war „not amused“. Wie in den folgenden Tagen zu hören war, empfand besonders die SPD St. Pauli die große Versammlung als Anmaßung, als Kampfansage. So war das auch tatsächlich gemeint. Mit großem Elan stürzten wir uns in Arbeitsgruppen, aus denen einiges hervorging: die international viel beachtete Planbude, die eine Planung des Esso-Häuser-Areals mit Beteiligung von 2.000 Anwohner:innen organisierte. Die Stadtteilbefragung „Stimmen von St. Pauli“, die erstmals sichtbar machte, wie genervt, wie aufgebracht die Menschen angesichts der Eventisierung und des Übertourismus eines krass vermarkteten Stadtteils waren. Aus den folgenden Versammlungen gingen eine Stadtteilzeitung, eine Arbeitsgruppe für eine sozial fundierte Drogenpolitik und andere kleinere Projekte hervor.
Der Wille respektvoll miteinander umzugehen war deutlich spürbar und viele sagten hinterher, sie seien beeindruckt gewesen, wie diszipliniert ein Stadtteil die eigenen Angelegenheiten besprechen kann.
Sternstunden waren sicher die beiden Versammlungen im August 2015. Auf der ersten wurden innerhalb von einer Stunde 15 Arbeitsgruppen gebildet, um die Geflüchteten zu unterstützen, die damals gerade in die nahegelegenen Messehallen einquartiert wurden. Auf der zweiten trafen sich im Ballsaal sage und schreibe 1.200 Menschen – Geflüchtete und St. Paulianer:innen – um gemeinsam klar zu machen: Wir sind jetzt Nachbar:innen, wir halten zusammen – gegen die Abschottungspolitik, die von Merkels „Wir schaffen das“ nur kaschiert wurde.
1.200 Anwesende gab es noch ein zweites Mal: im Juli 2017, zehn Tage nach dem unsäglichen G20-Gipfel. Die brutalen Polizei-Einsätze, aber auch der Abend vom 7. Juli, an dem in der Schanze Geschäfte gebrannt hatten, hatten einen verwundeten Stadtteil zurückgelassen. Bei brütender Sommerhitze gelang auf der Versammlung eine dreistündige Aussprache, bei der trotz aller Kontroversen niemand unterbrochen wurde. Der Wille respektvoll miteinander umzugehen war deutlich spürbar und viele sagten hinterher, sie seien beeindruckt gewesen, wie diszipliniert ein Stadtteil die eigenen Angelegenheiten besprechen kann – ohne Einmischung von außen. Von der hatte es in der G20-Woche genug gegeben.
Die für Ende März 2020 angesetzte elfte Versammlung konnte dann wegen der beginnenden Pandemie nicht mehr im Ballsaal stattfinden. Wir hielten sie per Videokonferenz ab, aber die Teilnahme war überhaupt nicht mit einer echten Versammlung zu vergleichen. Vielleicht 100 St. Paulianer:innen versuchten, die neue Krisensituation zu besprechen, was vor dem Bildschirm doch mühsam war. Seitdem hat es leider keine Versammlung in St. Pauli mehr gegeben.
Die Versammlungen hatten zwar mit 300 bis 1.200 Besucher:innen eine beachtliche Größe. Die Diversität der Bewohner:innen von St. Pauli bildeten sie dennoch nicht ab.
Fast zehn Jahre nach der ersten Stadtteilversammlung ist es vielleicht Zeit Bilanz zu ziehen. Was haben wir geschafft, was nicht? Sind Stadtteilversammlungen wirklich ein Format, das politisch etwas bewirken kann?
Ein Erfolg war, dass die Versammlungen, auch wenn sie nicht regelmäßig abgehalten wurden, eine gewisse Selbstverständlichkeit in St. Pauli bekamen. Die Leute gingen dorthin, um sich zu informieren. Manche auch stellvertretend für ihre WG, der sie hinterher berichteten, worum es gegangen war.
Dennoch ist es uns – also der Gruppe, die sie organisierte – nicht gelungen, die Versammlungen zu verstetigen. Sie so zu institutionalisieren, dass auch St. Paulianer:innen, die nicht mit Initiativen verbunden waren, selbstverständlich Anliegen, Probleme, Pläne einbrachten, die besprochen werden sollten. Vielleicht sogar selbst eine Versammlung auf die Tagesordnung setzten.
Auch haben die Versammlungen in anderen Stadtteilen keine Schule gemacht. Zwar fragten dann und wann Initiativen aus anderen Teilen Hamburgs an, wie wir unsere Treffen genau organisieren würden, aber dabei blieb es dann. Ein wichtiger Grund, dass die St. Pauli-Stadtteilversammlungen in ihrer Größe eine Besonderheit blieben, ist ganz schlicht das Raumproblem. Ein Saal von der Größe des Ballsaales im Millerntorstadion findet sich nicht überall, schon gar nicht mietfrei. Saalbauten in etlichen Stadtteilen, wie sie etwa in Frankfurt am Main seit dem 19. Jahrhundert entstanden waren, gibt es in Hamburg nicht, nur wenige Stadtteile verfügen über ein Bürgerhaus.
Die Versammlungen hatten zwar mit 300 bis 1.200 Besucher:innen eine beachtliche Größe. Die Diversität der Bewohner:innen von St. Pauli bildeten sie dennoch nicht ab, auch wenn das Publikum gemischt war und sich nicht nur aus der typischen linken Szene einer Großstadt zusammensetzte. Hierfür hätte man die Versammlungen wohl richtig institutionalisieren müssen, mit festen Terminen im Jahr, einer klareren Ansprache an alle Milieus und auch mit einem einheitlicheren Ablauf.
Stattdessen experimentierten wir mit unterschiedlichen Formaten. Oft gab es in der ersten Hälfte verschiedene Inputs, wurden Videos gezeigt, Berichte oder Erklärungen vorgetragen, in der zweiten Hälfte folgte dann die Diskussion. Nach der Erfahrung der ersten Versammlung, in der sich viele vor allem ihren Frust von der Seele redeten, versuchten wir später, die Diskussion zu strukturieren, um sie konstruktiver zu machen. Sich gegenseitig nur zu berichten, wie schlecht die Lage ist – Mietenexplosion, Abrisse und andere Zumutungen – stärkt nicht unbedingt die Motivation, gemeinsam auch längerfristig gedachte Aktionen zu starten. Die Versammlung nach dem G20-Gipfel war insofern besonders, als sie, nach dem Fish-Bowl-Prinzip organisiert, als reine Aussprache organisiert war. Die Besucher:innen saßen, so gut das in einem länglichen rechteckigen Saal geht, in konzentrischen Kreisen angeordnet. Die Zeit für Redebeiträge war auf drei Minuten begrenzt, woran sich tatsächlich alle hielten – beileibe keine Selbstverständlichkeit.
Für eine Bewegung, die die gesellschaftlichen Zustände im Zeitalter des globalen Kapitalismus überwinden will, gibt es keine Alternative zu derartigen Versammlungen.
Ob sich die Stadtteilversammlungen ohne Pandemie doch noch verstetigt hätten zu einer Institution, die alle Bewohner:innen anspricht, ist schwer zu sagen. Allerdings war deutlich zu spüren, dass nach dem unsäglichen G20-Gipfel die Luft im Stadtteil über längere Zeit raus war. Hatte es zuvor mitunter zwei Versammlungen im Jahr gegeben, dauerte es nun anderthalb Jahre bis zur nächsten im Februar 2019. Auch daran zeigt sich, dass die Versammlungen vor allem ein Angebot einer Gruppe von motivierten Aktivist:innen war: Setzten die keine in Gang, übernahm niemand sonst die Organisation.
Dennoch glaube ich, dass es für eine linke Bewegung und erst recht langfristig für eine breite Bewegung, die die gesellschaftlichen Zustände im Zeitalter des globalen Kapitalismus überwinden will, hin zu einer wirklich demokratischen, inklusiven und egalitären Gesellschaft, keine Alternative zu derartigen Versammlungen gibt. Für mich kann eine echte Demokratie nur mit solchen Versammlungen beginnen, die liberale parlamentarische Demokratie ist bestenfalls eine Version 0.7.
Immerhin hat der Gedanke seit Anfang der 2010er auch in westlichen Gesellschaften Fuß gefasst. Die Asambleas in Spanien 2011 oder die Occupy-Bewegung haben diese eigentlich uralte Form der politischen Verständigung wieder hervorgeholt. In vielen indigenen Kulturen ist sie nie verloren gegangen. Raul Zibechi hat etwa in „Bolivien. Die Zersplitterung der Macht“ (2009) eindrucksvoll beschrieben, wie die indigenen Einwohner:innen von El Alto (der Nachbarstadt von La Paz) ihre Versammlungstradition aus ihren Dörfern in die Großstadt gebracht haben. Die Juntas Vecinales dort sind Nachbarschaftsversammlungen, die einmal im Monat auf der Straße oder auf einem Platz abgehalten werden. Alles Wichtige wird dort besprochen.
Auch die Revolution von Rojava 2012, deren Demokratischer Konföderalismus für mich das spannendste politische Experiment seit Jahrzehnten ist, gründet sich auf Nachbarschaftsversammlungen als unterste Ebene einer radikalen Form von Demokratie. In der übrigens in allen Versammlungen und Gremien darauf geachtet wird, dass die Diversität der Gesellschaft – hinsichtlich Geschlecht, Sprache, Ethnizität – abgebildet wird. Davon können wir in den europäischen Großstädten noch viel lernen.
Ich möchte sogar so weit gehen zu behaupten: Angesichts der dramatischen Verschiebung der europäischen Gesellschaften hin zur politischen Rechten – wegen oder auch trotz ihres Konzepts einer autoritär-neoliberalen und rassistischen Gesellschaft – muss sich eine breite emanzipatorische linke Bewegung dringend darauf besinnen, in den kommenden Jahren Nachbarschafts- oder Stadtteilversammlungen zu organisieren. Dort kann im Kleinen eine neue Gesellschaft eingeübt werden, in der Rassismus, soziale Spaltung und konsumistischer Individualismus keinen Platz mehr haben werden.
Autor
Niels Boeing (nbo) ist Journalist, Autor, Reisender und seit der Gründung 2009 aktiv im Hamburger Recht auf Stadt-Netzwerk. 2015 hat er in der Edition Nautilus die Flugschrift „VON WEGEN. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft“ veröffentlicht.
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▷ „Nachbar*innen aller Stadtteile organisiert euch!“ (nbo) Común #3 (2020)
Titelillustration
© Rainer Midlaszewski