„Wir schreiben gegen die Taktik des Verdrängens und Vergessens an“

Mehr als ein Buch zur Kampagne: Warum es „Wie Vergesellschaftung gelingt“ von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« jetzt braucht. Ein Interview mit Ralf Hoffrogge von »DWE«.

Interview: Kristin Schwierz

Am 26. September 2021 hatten mehr als eine Million Berliner:innen in einem Volksentscheid für eine Enteignung von gewinnorientierten Wohnungsun­ternehmen gestimmt. Mit mehr als 59 Prozent Zustimmung konnte der Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« (DWE) einen riesigen Erfolg verbuchen. Doch auf die Umsetzung warten die Berliner:innen bisher vergeblich. Seit April 2022 berät eine Expertenkommission, der auch Vertreter:innen von DWE angehören, über das weitere Vorgehen. Dabei hat die Initiative in den letzten Jahren bereits umfangreich dazu vorgearbeitet, wie eine Umsetzung gehen kann. Das Material aus dieser Auseinandersetzung dokumentiert DWE nun in einem Buch: „Wie Vergesellschaftung gelingt – Zum Stand der Debatte“ versammelt einerseits eigene Konzeptionen zur Vergesellschaftung von Wohnraum (sogar einen Gesetzesvorschlag hat die Initiative erarbeitet), zum anderen finden sich hier amtliche, wissenschaftliche und juristische Stellungnahmen sowie weitere Beiträge, die einordnen, erklären, kommentieren, ergänzen.

Común hat bei Ralf Hoffrogge von der Redaktion des Buchs nachgefragt, was die Initiative zur Veröffentlichung bewegt hat. Ralf Hoffrogge ist Historiker und seit Gründung aktiv bei »DWE«.


Mit dem Volksbegehen und der Kampagne ist es euch gelungen die politische Debatte um Vergesellschaftung in eine breite Öffentlichkeit zu bringen. In eurem Band stellt sie sich auf den ersten Blick eher als fachliche Auseinandersetzung dar: War das eure Intention?

Das Buch soll den Stand der Debatte festhalten – und die Fachdebatte ist von der politischen Debatte nicht zu trennen. Denn in der Berliner Landespolitik wird immer wieder so getan, als sei alles noch unklar. Bei jedem Wendepunkt unserer Bewegung wurde versucht, alles auf Null zu setzen. Die Blockierer setzen auf das Vergessen in Medien und Öffentlichkeit, stellen sich dumm und werfen immer wieder dieselben Fragen auf: Ob das überhaupt legal sei, ob das überhaupt umsetzbar sei. Damit wird letztlich die Legitimität des Volksentscheids in Frage gestellt.

Wir schreiben gegen diese Taktik des Verdrängens und Vergessens an. Dazu haben wir alles Wichtige gesammelt, was seit 2018 zur Vergesellschaftung von Wohnraum geschrieben wurde: unsere Konzeptpapiere vom ersten Beschlusstext an, ein „Best-of“ der juristischen Debatte und die wichtigsten Konzeptdokumente zur Finanzierung. Unsere Botschaft ist: Es gibt Ergebnisse. In fünf Jahren Debatte zu Vergesellschaftung wurde deren Legalität durch zahlreiche Gutachten bestätigt, es gibt Finanzierungsmodelle – und eine politische Mehrheit. Die Berliner Bevölkerung hat der Politik im September 2021 keinen Prüfauftrag erteilt, sondern einen Auftrag zur Durchführung. Der von über einer Million Menschen befürwortete Beschluss fordert den Senat auf, „alle Maßnahmen einzuleiten“ um die Immobilienbestände der Konzerne in Gemeingut zu überführen.

Wer ist die Zielgruppe des Buchs?

Alle, die sich mit Vergesellschaftung beschäftigen wollen – ganz egal ob mit Vorwissen oder ohne. Bisher gab es keinen Ort, wo der Debattenstand mal gesammelt war – es gab gute Texte, aber nicht mal auf unserer eigenen Website waren die alle abrufbar, geschweige denn geordnet und eingeleitet. Jetzt gibt es erstmals einen Gesamtüberblick, mit Einleitung und Chronologie der Bewegung vorneweg, geordnet in drei Teilkapitel „Konzepte“, „Rechtliches“ und „Finanzen“, die wiederum gesondert eingeleitet werden. Uns war wichtig, dass die Dokumente nicht nur einfach so ausgekippt werden, sondern auch verständlich eingeführt sind. Dennoch ist natürlich einiges fürs Fachpublikum geschrieben, etwa da, wo wir mal ein Rechtsgutachten ganz abdrucken. Aber es gibt auch sehr viele Texte, die geradezu für den Straßenwahlkampf geschrieben sind und sehr direkt sagen, wie wir uns Vergesellschaftung vorstellen – etwa die „Vergesellschaftungsbroschüre“ von 2020. Zudem kommen auch unsere Bündnispartner, wie etwa ver.di, IG Metall oder der Berliner Mieterverein, zu Wort. Uns war es wichtig, dass auch über die Beschäftigten der Immobilienindustrie, über deren Arbeitsbedingungen gesprochen wird – bisher sind nämlich die Konzerne betriebsratsfreie Zonen. Aber auch darüber hinaus gibt es ein gewerkschaftliches Umdenken – denn was nützt die Lohnerhöhung, wenn sie durch die Mietpreisexplosion aufgefressen wird? Es ist klar, dass man da mit reiner Tarifpolitik nicht weiterkommt, und so besinnen sich viele auf die ur-gewerkschaftliche Forderung nach Gemeinwirtschaft.

Die zentralen Botschaften eures Buchs kurz zusammengefasst: Vergesellschaftung ist umsetzbar, wäre juristisch legal und ist finanzierbar. Alle Kritik widerlegt? Versteht ihr das Buch auch als eine Argumentationshilfe oder gar ein Handbuch, wie es gehen kann?

Ja, das Buch ist an vielen Stellen ein Handbuch, das auf die konkrete Umsetzung zielt und dafür Hinweise gibt. Man kann es aber auch anders lesen – als ein Stück Bewegungsgeschichte etwa, als Ideengeschichte von Vergesellschaftung, von allerersten Forderungen bis hin zum fertigen Gesetzesentwurf. Leider war nicht der Raum, um mehr über unsere Ansätze für Organizing und Starthilfe bei Mieter:innenprotesten zu berichten, oder über unsere Öffentlichkeitsarbeit – der Schwerpunkt liegt eben auf unserem Ziel: der Vergesellschaftung von Wohnraum. Dennoch ist das Buch sicher auch relevant für alle, die sich mit Sozialisierung im Gesundheits- oder Energiebereich beschäftigen wollen. Natürlich kann man dafür nicht eins zu eins unseren Gesetzesentwurf abschreiben. Aber vielleicht können wir Inspiration bieten für einen politischen Stil, der Radikalität und Realpolitik verbindet und dabei vor Reformismus nicht zurückschreckt. Und natürlich ist der Artikel 15 im Grundgesetz nicht nur für Wohnraum zuständig – die Deutungskämpfe, ob und wie weitgehend er angewendet werden kann, sind zentral für alle, die Gemeingüter oder Commons als Zukunftsentwürfe sehen.

Angesichts dieser Fülle des Materials könnte die vom Berliner Senat beauftragte Expertenkommission einfach euer Buch lesen, oder…?

Die Mitglieder der Kommission haben das Buch als erstes erhalten – wir haben extra mit dem Kopierer einen Vorabdruck erstellt. Ein Mitglied hat es sogar am Strand gelesen. Wir bekamen von dieser Seite durchaus positive Rückmeldungen, das Buch wurde als sehr hilfreich empfunden – zumindest von denjenigen, die ernsthaft über Vergesellschaftung nachdenken und nicht über deren Verhinderung.

„Natürlich steckt der Teufel im Detail.«

Wo seht ihr denn noch weiteren Ausarbeitungs- und Klärungsbedarf – konzeptionell und juristisch? Steckt der Teufel, wie so oft, im Detail?

Natürlich steckt der Teufel im Detail. Deswegen bekommen ja auch Teilfragen, wie etwa die Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin ihren Platz im Buch – also: Ist Vergesellschaftung per Landesgesetz möglich? Um da für ein klares Ja zu argumentieren, muss man ins Detail gehen. Aber das lohnt sich. Unsere Vergesellschaftungsbewegung hat nur an Fahrt gewinnen können, weil wir die Enteignungsforderung auf diese Weise sehr konkret gemacht haben – mit dem Volksentscheid und der Berufung auf Artikel 15 gibt es eine echte Umsetzungsperspektive. Mit einer rein verbalradikalen Forderung wäre unsere Kampagne dagegen heute schon vergessen. Doch jetzt hat sie eine politische Mehrheit und der Volksentscheid ist einem Parlamentsbeschluss gleichgesetzt. Der Berliner Senat kommt darum nicht herum und hat daher das Thema in eine Kommission verschoben. Einerseits ist das Verschleppungstaktik, die wieder mal darauf setzt, das Thema aus der Öffentlichkeit zu bekommen. Andererseits wird das nicht ewig so gehen, die Kommission wird 2023 Ergebnisse präsentieren müssen – und auf dem Weg dahin ist es klar, dass auch wir als Bewegung weiterhin mit Fachwissen und Fakten einhaken müssen. Täten wir das nicht, würden wir unsere Deutungshoheit abgeben – das haben wir nicht vor, und auch dafür steht das Buch.

Und nochmal ganz konkret: Was fehlt noch, wo muss noch weitergedacht werden?

Was noch fehlt, ist ein konkretes Papier dazu, was nach der Vergesellschaftung mit den Wohnungen passiert. Neben dem Vergesellschaftungsgesetz müsste auch die von uns geforderte „Anstalt öffentlichen Rechts“ (AöR) in eine juristische Sprache übersetzt werden. Wir arbeiten gerade an einem Eckpunktepapier für eine „Gemeingut Wohnen AöR“. Doch wer regiert dort? Die Probleme dabei standen bisher im Hintergrund, weil es in der öffentlichen Debatte nur um den Eigentumsentzug ging, um das Wegnehmen, nicht den Aufbau von was Neuem. Offen ist zum Beispiel, wie man mit den Interessenkonflikten nach so einer Verge­sellschaftung umgeht. Etwa zwischen Beschäftigten und Mieter:innen – die Angestellten der Verwaltung wollen möglichst hohe Löhne, die Mieter:innen wollen möglichst wenig Miete zahlen. Oder zwischen Mieter:innen und Stadtbevölkerung: Die Bevölkerung ruft nach Neubau und Rettungsaktionen durch Ankauf, die Bestandsmieter:innen müssten das aber mit ihren Mietzahlungen finanzieren. Wir schlagen vor, diese Konflikte durch radikale Demokratisierung innerhalb der AöR bearbeitbar zu machen. Nicht die Staatsbürokratie entscheidet, sondern die Menschen selbst – denn es gibt auch Interessenüberschneidungen und somit die Möglichkeit zum Kompromiss. Es soll daher in der AöR nicht nur einen Verwaltungsrat geben, in dem Mieter:innen, Landespolitik, Angestellte und Stadtbevölkerung vertreten sind, sondern auch ein System von Mieter:innenräten, die vor Ort Entscheidungen treffen können. So kann auch der Konflikt zwischen Zentralismus und den Bedürfnissen der Leute in den Kiezen ein Stück weit aufgehoben werden. Denn die AöR muss zentrale Aufgaben in lokale, ganz kleinräumige Lösungen umsetzen – ein Beispiel ist etwa die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten.

Du darfst an dieser Stelle ausdrücklich Leser:innen werben: Warum lohnt sich die Lektüre eures Buches?

Weil es einzigartig ist. Nur hier gibt´s alles von und über »Deutsche Wohnen & Co enteignen« zwischen zwei Pappdeckeln.


Interview

Kristin Schwierz (Común-Redaktion)


Weiterlesen

Wie Vergesellschaftung gelingt – Zum Stand der Debatte, Deutsche Wohnen & Co enteignen (Hg.), 2022, 296 Seiten, Parthas Verlag Berlin, 20 Euro


Titelbild

Unterschriftensammler:innen der Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« | Foto © Ian Clotworthy


Inhaltsverzeichnis