Das Programm »Patrimonio Ciudadano« in Barcelona – Perspektiven einer kooperativen Stadtentwicklung

Barcelona hat ein Programm aufgelegt, das die gemeinwohlorientierte Vergabe kommunaler Flächen und Räume an zivilgesellschaftliche Initiativen stadtweit ermöglicht.

Aya Isabel Kleine und Laura Calbet i Elias

Sei es durch gemeinschaftlichen Wohnungsbau, durch Pioniernutzungen oder durch Gemeinschaftsgärten, die Forderung nach einer gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung geht oft Hand in Hand mit einer stärkeren Einbindung zivilgesellschaftlicher Gruppen. Zivilgesellschaftliche Initiativen sehen Kooperationen mit Verwaltung und Politik als ein Mittel, um gemeinwohlorientierte Projekte zu etablieren. Verwaltungen und Politik wiederum sehen in solchen Kooperationen das Potential, Flächen und Räume neue Nutzungen jenseits kommerzieller Projektentwicklung zu geben. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Kommunen gewachsen, die neue Kooperationen in sogenannten Public-Civic Partnerships ausprobieren.

Kooperative Projekte stehen meist im Zeichen des Experimentierens. Während sie in die Planungskultur langsam Eingang finden, haben sich jedoch bislang die Verwaltungsroutinen insgesamt kaum verändert. Doch die Verbreitung vieler sogenannter Modellprojekte bleibt hinter den Erwartungen zurück, die zivilgesellschaftliche Gruppen und teilweise auch die Kommunen meist mitbringen. Die Verwaltungen sind häufig mit dem experimentellen Charakter und der Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Initiativen überfordert, die Zuständigkeiten und zeitlichen Kapazitäten der Sachbearbeiter:innen sind selten auf die neuartigen Prozesse zugeschnitten. Die zivilgesellschaftlichen Akteure müssen nicht nur sehr viel Durchhaltevermögen, sondern auch spezifisches Wissen mitbringen oder sich aneignen. Nicht selten scheitern Projekte an zu hohen finanziellen oder bürokratischen Anforderungen. In diesem Artikel wird anhand von Barcelona gezeigt, wie eine kooperative Stadtentwicklung doch gelingen kann.

Barcelonas Ansatz

Die Stadt Barcelona hat 2017 ein Programm zur gemeinwohlorientierten Vergabe öffentlicher Grundstücke und Flächen an zivilgesellschaftliche Akteure geschaffen, das diese Schwierigkeiten beheben soll. Das Modell »Patrimonio Ciudadano« (dt: Programm gemeinwohlorientierte Liegenschaften) schafft einen ganzheitlichen Rahmen, indem es Anforderungen, Verfahren und Konditionen für die Vergabe von Räumen zur gemeinwohlorientierten Selbstverwaltung durch zivilgesellschaftliche Gruppen festlegt. Damit gewährleistet es für die Beteiligten auf Seiten von Politik/Verwaltung und Zivilgesellschaft verlässliche, transparente und effiziente Abläufe. Die öffentlich-zivilgesellschaftliche Kooperation wird weniger zeitaufwändig und konfliktintensiv als das in vielen Modellprojekten hierzulande zu beobachten ist, denen ein solcher Überbau fehlt.

Das Programm ist Teil des neuen Munizipalismus, der Lokalregierungen, wie in Barcelona und anderen spanischen und südeuropäischen Städten, seit Mitte der 2010er Jahre prägt. Eine enge Zusammenarbeit zwischen sozialen Bewegungen bzw. zivilgesellschaftlichen Initiativen einerseits und staatlichen Akteuren andererseits gehört zur DNA munizipalistischer Forderungen. Diese Überzeugung ist auch »Patrimonio Ciudadano« eingeschrieben. Ziel ist das Empowerment zivilgesellschaftlicher Initiativen und die Schaffung von Vergabeverfahren, die auf gemeinnützige Akteure zugeschnitten sind. Dadurch sollen Projekte entstehen und sich verstetigen können, die auf vielfältige Weise zur Verbesserung der lokalen Lebensqualität beitragen, beispielsweise durch Wohnungs‑, Kultur- und Naherholungsangebote. Knapp 500 Projekte sind derzeit unter dem Dach des Programms in der Stadt verankert. Gemeinsam ist allen, dass durch die gemeinschaftliche Selbstverwaltung die Teilhabebedingungen auf Stadtteilebene gestärkt werden.

In Modellprojekten hierzulande ist oftmals zu beobachten, dass sie nur durch das Wohlwollen der Politik, den besonderen Einsatz einzelner Verwaltungsmitarbeitender und besonders flexibler Regelauslegungen entstehen. Das Programm »Patrimonio Ciudadano« sieht dagegen Verwaltungen grundsätzlich in der Verantwortung, innovative Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft voranzubringen:

 „(…) die Kommunen müssen auf die Forderungen der Bürgerinnen reagieren, sind sie doch die Verwaltungen, die den alltäglichen Problemen und Bedürfnissen am nächsten stehen. Daher liegt es weniger im Belieben der Stadtverwaltungen, ob sie notwendige Innovationen anstoßen, sondern diese sind vielmehr Teil ihres Aufgabenbereichs.“ (Quelle: Ajuntament de Barcelona, Referat Bürgerinnenrechte u. Partizipation, S. 2)

Mit dem Programm wird der Anspruch verfolgt, öffentlich-zivilgesellschaftliche Partnerschaften zu normalisieren. Es formuliert damit eine Alternative zur jahrelang eingeübten Praxis von Politik und Verwaltung, sich in wesentlichen Bereichen der Daseinsvorsorge auf private Akteure einzulassen und die Stadtentwicklung marktwirtschaftlichen Kräften zu überlassen. Gemeinwohlorientierte Nutzungen durch zivilgesellschaftliche Gruppen werden als sinnvolle Ergänzung der staatlichen Daseinsvorsorge verstanden, nicht als deren Substitut, und bilden einen Motor der Stadtentwicklung.

Das Programm umfasst (1) ein institutionelles Gerüst für die Vergabeverfahren, (2) Gemeinwohlkriterien für Vergabe und Evaluation sowie (3) verlässliche und ermöglichende Vergabe- und Nutzungskonditionen.

(1) Institutionelles Gerüst des Vergabeverfahrens

Am Anfang der Vergabeverfahren steht eine zivilgesellschaftliche Anlaufstelle, die nachbarschaftliche, zivilgesellschaftliche Gruppen schult und berät und bei der Bewerbung um eine kommunale Fläche unterstützt. Ist die Bewerbung eingereicht, geben Bezirk und Fachressorts Stellungnahmen beim Runden Tisch ab, der anhand von Barcelonas sogenannter »Gemeinwohlbilanz« über die Vergabe entscheidet. Darf das Projekt realisiert werden, finden regelmäßige Evaluationen statt, bei der auch die Nachbarschaft und weitere Stakeholder einbezogen werden.

Ablaufschema für die Übertragung kommunaler Räume an zivilgesellschaftliche Akteure (Quelle: Kleine, Aya; Calbet i Elias, Laura, 2023 – Gemeinwohlorientierte Bodennutzung in Kooperation. Ein Handlungsleitfaden für öffentlich-zivilgesellschaftliche Partnerschaften)

(2) Gemeinwohlkriterien

Aus einem umfassenden Prozess zwischen Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Initiativen ist Barcelonas  »Gemeinwohlbilanz« hervorgegangen. Im Unterschied zu bekannten Gemeinwohlkonzepten, wie der Stadtrendite oder der Gemeinwohlökonomie, füllt sie den oft vage formulierten Gemeinwohlbegriff mit konkreten und messbaren Zielen der Quartiers- und Projektentwicklung. Solche transparenten und klaren Kriterien vereinheitlichen und entschlacken aufwändige Vergabeprozesse und können zudem zivilgesellschaftliche Projekte gegenüber kritischen Stimmen legitimieren, weil sie einen Mehrwert für das Allgemeinwohl darstellen. Sie werden darüber hinaus in regelmäßigen Evaluationen herangezogen mit dem Ziel, die Qualität der Projekte und Gruppen in einem kontinuierlichen Lernprozess zu fördern.


„Gemeinwohlbilanz“ – Beispiele aus dem Fragenkatalog

soziale Wirkung, soziale Rendite und soziales Engagement

  • Geben Sie die Summe aus dem jährlichen Erwerb von Gütern und Dienstleistungen bei Unternehmen vor Ort an.
  • Welche Mechanismen zur Stärkung der am Projekt beteiligten Personen, von Quartiersbewohner:innen bis hin zu Projektmanager:innen, existieren?
  • Werden in Ihren Entscheidungsgremien die Vielfalt und Realität Ihrer Nachbarschaft angemessen berücksichtigt?

lokale Verankerung

  • Über welche Möglichkeiten verfügen Sie, um die Bedürfnisse, Anliegen und Sorgen in der Nachbarschaft zu erkennen?
  • Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, die ähnliche Produkte oder Dienstleistungen anbieten?
  • Geben Sie die Gesamtzahl der gemeinsam mit institutionellen Akteuren des Gebiets durchgeführten Aktivitäten an.

Demokratie, Partizipation, Gerechtigkeit

  • Sind Entgelte und Vergütungen für die Mitarbeiter:innen öffentlich einsehbar?
  • Entstehen Open Source / Creative Commons-Produkte?

Ökologie und Nachhaltigkeit

  • Gibt es einen Aktionsplan zur Umweltwirkung der Organisation?
  • Findet eine interne Kontrolle der CO2-Emissionen statt?

Beitrag für Menschen, Prozesse und Umwelt

  • Gibt es Räume für emotionale Fürsorge?
  • Gibt es Verbesserungen im Vergleich zu einem Referenztarifvertrag?

Wirtschaft und Gewinnorientierung

  • Geben Sie die Summe der Bruttojahresentgelte aller abhängig beschäftigten Personen, aufgeschlüsselt nach Geschlecht, an.
  • Wie wurden die Gewinne des letzten Geschäftsjahrs verteilt?

(3) Konditionen der Nutzung und Vergabe: Das Beispiel Can Batlló

Verlässliche Konditionen gewährleisten für alle Beteiligten Sicherheit und legitimieren das Verfahren gegenüber der Öffentlichkeit. Damit öffentlich-zivilgesellschaftliche Partnerschaften zur Regel werden können, gehören zum Programm »Patrimonio Ciudadano« ermöglichende Vergabe- und Nutzungsrechte.

Wir möchten an einem Beispiel darlegen, wie das aussehen kann: Das innerstädtische ehemalige Industrieareal Can Batlló in Barcelona vereint auf ca. fünf Hektar verschiedene Projekte, wie gemeinschaftliches Wohnen, eine Boulderhalle, eine Bibliothek, eine Kita, einen Hundespielplatz oder ein Gründungszentrum für sozialorientierte Betriebsgenossenschaften. Anstelle eines Erbpachtzinses, wie er bei der Konzeptvergabe in Deutschland üblich ist, zahlt die zivilgesellschaftliche Gruppe eine niedrige Jahresgebühr von insgesamt 650 Euro. Dadurch zahlen die ansässigen Projekte eine günstige Miete und neuen Projekten kann die erste Jahresmiete erlassen werden. Die Kommune trägt die Betriebs- sowie größere Baukosten. Die zivilgesellschaftliche Gruppe ist dazu verpflichtet, Instandhaltungsarbeiten zu erledigen. Sie haftet außerdem bei Schäden, zahlt die Versicherungen und verpflichtet sich zur gemeinwohlorientierten Ausrichtung des Gesamtprojekts. Je drei Vertreter:innen aus Zivilgesellschaft und Kommune bilden das Koordinierungs- und Monitoringkomitee. Ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Vertrag ist für beide Seiten möglich und die Kommune darf insbesondere bei einem anderweitigen, dringenden, öffentlichen Interesse den Vertrag auflösen. So wird eine „kontrollierte Verantwortungsübergabe von Politik und Verwaltung an die neuen Initiativen“ (Willinger und Schopp 2021, S. 10) möglich.

Fazit

Das Programm »Patrimonio Ciudadano« zeigt, wie ein Regelwerk aussehen kann, mit dem die vielen Modellprojekte aus ihren Nischen geholt und zur Selbstverständlichkeit einer gemeinwohlorientierten Stadt- und Quartiersentwicklung werden können. Es liefert Antworten auf die Fragen und Kritiken, die viele gemeinwohlorientierten Projekte vorbringen, wie zum Beispiel die nach klaren kommunalen Regelverfahren und dem Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Akteuren. Das Programm demokratisiert Vergabeprozesse kommunaler Flächen und Räume und vereinfacht gleichzeitig die an vielen Stellen noch zähen und unerprobten Aushandlungsprozesse. Es ist ein gutes Beispiel, wie eine gemeinwohlorientierte Alternative zu Public-Private-Partnerships sinnvoll aufgebaut und verankert werden kann.


Autorinnen

Aya Kleine war Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Städtische Aushandlung von Teilhabe und Gemeinwohl“ (www.koopwohl.de) und promoviert zur Wohnraumversorgung in Berlin.

Laura Calbet ist Professorin für Theorien und Methoden der Stadtplanung an der Universität Stuttgart und arbeitet u.a. zu alternativen Eigentumsformen städtischen Bodens.


Weiterlesen

Kleine, Aya; Calbet i Elias, Laura (2023): Gemeinwohlorientierte Bodennutzung in Kooperation. Ein Handlungsleitfaden für öffentlich-zivilgesellschaftliche Partnerschaften. Hier finden sich auch weitere Beispiele guter Praxis von Public-Civic-Partnership.
Ajuntament de Barcelona, Referat Bürger*innenrechte und Partizipation: Programm gemeinnützige Liegenschaften. Strategie zur Förderung der öffentlich-zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. Barcelona.
Ajuntament de Barcelona; Xarxa d’Economia Solidària de Catalunya (2019): »Gemeinwohlbilanz« . Fragenleitfaden. Barcelona.
Vollmer, Lisa; Calbet i Elias, Laura; Raab, Susanna; Zanders, Theresa; Kleine, Aya (2023): Ko-Produktion. Ein Handlungsleitfaden für die Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und öffentlichen Verwaltungen.

▷ Siehe auch die Toolbox in dieser Común #8: Toolbox: Kooperative Stadtentwicklung


Titelillustration

© Rainer Midlaszewski


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