Der lange Atem

Das Freiburger Grethergelände – vom Gebrauchtwarenlager zum Mietshäuser Syndikat

Thomas Hohner

Anfang der 1980er Jahre stand es gar nicht gut um die Fabrikgebäude der einstigen Gretherschen Eisengießerei. Die völlig zerbombte Freiburger Innenstadt war nahezu wieder aufgebaut, bisher stadtplanerisch vernachlässigte Viertel rückten ins Visier der Stadtplanung. So auch das Viertel Grün/Sedanquartier, das in unmittelbarer Zentrums- und Bahnhofsnähe liegt – bis dahin ein Mischviertel mit Wohnbebauung, Werkstätten, Kneipen, Läden und zwei Fabriken, die schon lange nicht mehr produzierten. 1971 wurde im Viertel der einstmalige Schlachthof abgerissen, die „Fauler Fabrik“ folgte 1979, nun sollte es auch der Gretherfabrik an den Kragen gehen.

Das Grethergelände hatte da schon längst seine besten Tage hinter sich. Bereits im zweiten Weltkrieg wurde die Produktion eingestellt und danach nie wieder aufgenommen. Verschiedene Werkstätten nutzten die Gebäude mehr schlecht als recht, als 1977 das alternative Gebrauchtwarenlager auf das Gelände zog. Da war der Abriss der ehemaligen Eisengießerei eigentlich schon beschlossene Sache. 1980 standen die Gebäude aber immer noch und es gründete sich der »Verein für Leben und Arbeiten in der Gretherschen Fabrik«.

Das Ziel, die Gebäude zu erhalten, war ein nahezu aussichtsloses Unterfangen! Durch die attraktive Lage war das ganze Viertel zu einer bevorzugten Gegend für Neubaupläne und Spekulationen aller Art geworden, bis die Stimmung in Freiburg kippte. Es gab zu wenig Wohnraum in der Studierendenstadt. Schon Ende der 1970er Jahre besetzten junge Leute aus Protest und zur Selbstversorgung verschiedene leerstehende Häuser. Anfang der 1980er Jahre, mit der Besetzung des prominent gelegenen »Dreisamecks«, nahm die Bewegung gewaltig Fahrt auf. Als im Juni 1980 das Gebäude mit einem massiven Polizeieinsatz geräumt wurde, kam es in dem bis dato eher beschaulichen Freiburg zu einem sechstägigen Ausnahmezustand mit Straßenschlachten und Massendemonstrationen. Das Ganze mündete in der Besetzung des »Schwarzwaldhofs« und in einer andauernden Politisierung der Thematik Wohnen, Mieten, Spekulation. Auch nach der Räumung des Schwarzwaldhofs im März 1981 wurde das Unbehagen an der städtischen Wohnungs- und Sanierungspolitik nicht weniger. Die Stadt geriet massiv unter Druck. Die CDU-Landesregierung setzte auf Eskalation. Der sozialdemokratische Bürgermeister und die Mehrheit des Gemeinderats suchten nach Mitteln der Befriedung. Prominente Freiburger Bürger:innen unterstützten dieses Vorgehen. Die verhandlungswilligen Schwarzwaldhof-Besetzer:innen kamen in dem Gebäude einer ehemaligen Klinik in der Marienstraße unter. Das „AZ“ genannte hochfrequentierte autonome Zentrum wurde geduldet, die bisherige Sanierungspraxis überdacht und es wurde ein sensiblerer Umgang mit altem Gebäudebestand eingeleitet. Diese politischen Rahmenbedingungen waren der Grund dafür, dass sich plötzlich eine winzige Chance für das Fabrikareal Grethergelände auftat.

Es gibt keine Chance also nutzen wir sie!

Der Gemeinderat beschloss zwar 1982 das Fabrikareal zu erhalten, aber es dauerte noch fast fünf Jahre bis nach zahlreichen Wendungen, unzähligen Verhandlungen und blankliegenden Nerven auf beiden Seiten 1987 die Maschinenhalle als erster Gebäudeteil im Erbbaurecht vom Verein übernommen werden konnte. 1995 folgte mit der Gießereihalle und den angrenzenden Gebäuden, der zweite und größte Teil des Geländes, im Jahr 2000 dann der noch fehlende Rest. Von der Gründung des »Vereins für Leben und Arbeiten in der Gretherschen Fabrik« bis zur Übernahme und dem Ausbau des gesamten Areals vergingen also über 20 Jahre.

Schon bevor der erste Vertrag unterzeichnet wurde, begann die Grether Baukooperative allerdings mit der Sanierung und dem Ausbau der Maschinenhalle. Die Baukooperative war zu Beginn das Herz und der Motor des Projekts, häufig in Personalunion mit dem Verein. Natürlich gab es im langjährigen Prozess an der einen oder anderen Stelle der Verhandlungen fachliche Beratung von außen. Natürlich gab es auch in der Baukooperative die eine oder den anderen, die Bauerfahrung mitbrachten, doch insgesamt entstand das Grethergelände durch das Engagement, die Lernfähigkeit, den Optimismus und die Sturheit der Beteiligten. Nicht unerheblich ist dabei, dass die meisten gute Gründe für ihr Engagement hatten: Sei es, dass sie sich einen alternativen Arbeitsplatz schafften oder ein günstiges Dach über dem Kopf und manchmal auch beides. Und immer ging es auch um kollektive Strukturen. Die Mehrzahl der Aktivist:innen war jung, lebenslustig und wollte zusammen leben, zusammen arbeiten und manchmal auch zusammen kämpfen.

Die Grether Baukooperative in Aktion | Foto: © Grethergelände – Wohnprojekt im Mietshäusersyndikat

Stellvertretend für andere ist hier der vor fast zwei Jahren verstorbene Stefan Rost zu erwähnen. Er war gelernter Maurer und brachte zudem noch Kollektiverfahrung aus Köln mit, als er die Grether Baukooperative mitgründete. Was ihn umtrieb, war die Frage, ob es nicht auch unter kapitalistischen Bedingungen möglich ist, günstigen Wohnraum zu schaffen. Für ihn war klar, dass man dafür das Eigentum dauerhaft neutralisieren muss. Er und seine Mitstreiter:innen kamen Anfang der 1990er Jahre auf die Idee, mittels zweier Vereine und zweier GmbHs Gebäude dauerhaft dem Markt zu entziehen. Diese Idee war die Geburtsstunde des Mietshäuser Syndikats (MHS) und das Grethergelände war dafür Wiege und Prototyp.

In der Grether Baukooperative war tatsächlich die Trennung von Kopf und Handarbeit, von Wohnen und Arbeiten aufgehoben. Baufortschritt und Verhandlungserfolge hielten die Motivation hoch. Viele Neue stiegen ein, Bauerfahrung hatten die wenigsten. Das war damals nicht so wichtig, denn die Chemie musste passen, es ging ums Kollektiv. Auf der Baustelle ging es langsam voran. Die Neuen mussten angelernt werden, nicht jedes Werkzeug war auf dem neusten Stand, es fehlte an Maschinen und manchmal am Material. Die Bauküche war das Zentrum, manchmal Wohnzimmer und oft die Ideenwerkstatt. Schließlich basierte die Idee des MHS auch darauf, statt mit teuren Bankkrediten mit günstigeren Direktkrediten zu arbeiten. Das eigene Umfeld und die Verwandtschaft gab dafür nicht genug her. Die Baukooperative ersann spektakuläre Werbekampagnen, so zog sie unter anderem mit Bügelbrettern und dem Motto „invest surfin: Crazy Home Banking – Direktkredite für Grether Ost“ durch die Stadt.

Es war mühevoll, am Anfang war das Geld stets knapp, aber irgendwie schaffte man es immer, die benötigten Direktkredite einzuwerben.

Es war mühevoll, am Anfang war das Geld stets knapp, aber irgendwie schaffte man es immer, die benötigten Direktkredite einzuwerben. Über 20 Jahre vergingen vom Beginn der ersten Ausbauarbeiten bis zum Ende der Bauphase mit der Fertigstellung des Neubaus im Jahre 2005. Damit ging eine Phase zu Ende, die von Aufbruch, Kampf und Erfolg geprägt war und die sicher mehr mit dem Aufbruchsmotto „Leben und Arbeiten in der Gretherschen Fabrik“ zu tun hatte, als die folgenden Jahre bis heute.

Vom Ende des Aufbruchs

Das Bild des heutigen Grethergeländes prägen nicht zuletzt die zum Teil seit Jahrzehnten hier tätigen sozialen Projekte: Das Frauenzentrum (heute Feministisches Zentrum), die »Rosa Hilfe«, das »Radio Dreyeckland«, zwei Kitas, später dazu kamen das »Archiv Soziale Bewegungen«, der »Bewegungsraum« (Yoga, Bewegung) und das »rasthaus« (unterstützt Geflüchtete); zuletzt zog der Chaos Computer Club ein, außerdem gibt es ein paar alternative Unternehmen. In den Obergeschossen wohnen mittlerweile fast 100 Bewohner:innen. Herz des Geländes war und ist das »Strandcafé«, das aus der ehemaligen Bauküche entstanden ist. Es dient als Treffpunkt, hier tagen die Plena, tagsüber gibt es Cafébetrieb, zweimal in der Woche finden abends Kneipe und manchmal Veranstaltungen statt. Hin und wieder beginnt oder endet hier eine Demo.

Heute ist das Grethergelände ein in sich gefestigtes, stabiles und solide finanziertes Projekt, das in der Öffentlichkeit kaum noch angefeindet wird. Aber mit dem Baulärm und dem Baustaub verflog auch die Aufbruchstimmung der Anfangszeit. Es muss nicht mehr erobert, sondern verwaltet, organisiert und austariert werden. Der Ort, wo alles entschieden wird, ist das Plenum. Leider sind es oft die gleichen Gesichter, die sich auf den Plena treffen. Bei Einzügen soll darauf geachtet werden, dass den „Neuen“ klar ist, dass hier Mitarbeit erwartet wird. Doch es beteiligen sich längst nicht alle. Ein Projekt dieser Größenordnung muss vielleicht auch damit leben, dass Einige hier einfach auch nur außerordentlich günstig wohnen wollen.

Bewohner:innentreff »Strandcafé« auf dem Grethergelände | Foto: © Grethergelände – Wohnprojekt im Mietshäusersyndikat

Für Verwaltung, Hausmeistertätigkeiten und Öffentlichkeitsarbeit gibt es insgesamt rund zwei bezahlte Stellen zum Einheitslohn, die sich auf mehrere Köpfe verteilen. Aber es gibt mehr zu tun und es ist schwerer geworden Leute zur Mitarbeit zu motivieren. Ein gutes Beispiel dafür ist das »Strandcafé«, dessen aktueller ehrenamtlicher Betrieb bei reduzierten Öffnungszeiten auf viel zu wenigen Schultern ruht. Freiwillige finden sich etwas leichter für Aktionen und Feste, beim jährlichen Hoffest, bei Stadtteilaktivitäten und Veranstaltungen. Aber auch bei solchen Aktivitäten wird es schwerer, genügend Unterstützung zu finden. Das liegt auch daran, dass einige der langjährigen Aktivist:innen aus zumeist privaten Gründen das Grethergelände verlassen, andere mittlerweile das Rentenalter erreicht haben und verdientermaßen kürzer treten. Glücklicherweise gibt es eine altersmäßig gut durchmischte Bewohner:innen-Struktur auf dem Gelände. Dass sich dies in der Beteiligung der Jungen noch nicht so abbildet, liegt sowohl an den inneren Strukturen, als auch daran, dass der Projekt-Alltag nicht immer besonders sexy ist. Eine der spannenden Fragen der nächsten Jahre wird es sein, wie der anstehende Generationswechsel bewerkstelligt werden kann.

Ein Weg ist es sicher, sich dies als Problem bewusst zu machen und die Fragen zu beantworten, die auf zwei Zukunftsworkshops vor einigen Jahren gestellt worden sind: Wo wollen wir mit dem Projekt hin und wie verbessern wir dafür unsere inneren Strukturen? Hilfreich erscheint, sich neue und große Ziele zu setzen: Die Diskussion über die Energieeffizienz auf dem Gelände hat gerade erst angefangen und das 40-jährige Jubiläum 2027 ist auch nicht mehr so weit. Dank der vielen sozialen Projekte und der unterschiedlichen Gruppen, die sich hier treffen, ist das Grethergelände ein Ort des Austauschs, der Vernetzung und der Vielfalt. Auch das lässt sich weiter ausbauen, denn eines ist klar: Die Zukunft des Geländes kann nicht darin liegen, dass die ansässigen Projekte isoliert vor sich hin wursteln und die Bewohner:innen zwar günstig und innenstadtnah, aber anonymisiert vor sich hin wohnen. Ein MHS-Projekt wie das Grether fordert von Bewohner:innen und Nutzer:innen Einsatz und Engagement, aber es ist, gerade durch seinen jahrzehntelangen Bestand, Beispiel dafür, dass Selbstorganisation dauerhaft funktioniert und Gebäude durchaus der kapitalistischen Verwertungslogik entzogen werden können.


Autor

Thomas Hohner hat nie auf dem Grethergelände gelebt, aber dort viele Jahre als Drucker gearbeitet. Ihm war es immer wichtig, Leben und Arbeiten zu trennen. Heute arbeitet er in der Altenpflege und organisiert nebenberuflich die Öffentlichkeitsarbeit für das Grether.


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Grethergelände Freiburg – Wohnprojekt im Mietshäusersyndikat


Titelbild

Grethergelände Innenhof | Foto: © Grethergelände – Wohnprojekt im Mietshäusersyndikat


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