Interview mit Manuel Hanke und Elke Rauth vom Hausprojekt »Bikes and Rails« (Wien)
Interview: Rebecca Sirsch
Im Sonnenwendviertel mitten in Wien, 10 Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, in einem neu gebauten Stadtteil, steht seit 2020 das Hausprojekt »Bikes and Rails«. Die Bewohner:innen zahlen eine Miete, die im Durchschnitt zehn Euro pro Quadratmeter geringer ist als die ihrer Nachbar:innen. In dem fünfstöckigen ökologischen Passivhaus in Holzriegelbauweise und mit Solarstrom wird nicht nur gewohnt und gelebt, dort entsteht auch Raum für Projekte und gemeinwohlorientierte Initiativen. Realisiert wurde das Projekt mit dem »habiTAT«, dem österreichischen Pendant zum Mietshäuser Syndikat.
Elke Rauth und Manuel Hanke sind Mitbegründer:innen von Bikes and Rails. Im Interview berichten sie, wie es die Hausprojektinitiative geschafft hat, solch eine Utopie zu realisieren und was das Projekt so besonders macht.
Herzlichen Glückwunsch erstmal zu diesem spektakulären Projekt! Wie seid ihr gestartet? Und was war zuerst da: Die Gruppe oder die Projektidee?
Manuel: Ich habe in der Projekthistorie zwei Hüte auf. Ich bin heute Bewohner des Projekts und arbeite gleichzeitig für die »Wohnbundconsult« – wir begleiten professionell Baugruppen und Wohnprojekte. Es gab in diesem Stadtentwicklungsgebiet einen Bauträgerwettbewerb mit Flächen für vier Baugruppen mit einem gesondertem Konzeptwettbewerb. Der Nachhaltigkeitsarchitekt Georg Rheinberg ist mit einer Gruppe von Leuten auf uns zugekommen, die ein Fahrrad-Café aufmachen und eine Baugruppe gründen wollten. Das fanden wir spannend und haben gemeinsam ein Konzept entwickelt und angefangen die Gruppe zu unterstützen und aufzubauen. Daraus ist eine Kerngruppe entstanden, die einen Verein gegründet hat. Der Wettbewerb wurde 2015 gewonnen. Zwei Jahre habe ich das Projekt in diesem mehrstufigen Wettbewerb begleitet und mich am Ende auch selbst der Gruppe angeschlossen. Schlussendlich kann gesagt werden, dass sich die Gruppe nicht aus einem Freundeskreis entwickelt hat, sondern die Personen sukzessive während des Prozesses dazugekommen sind und sich zum Teil vorher gar nicht gekannt haben.
Welche Rolle spielen Baugruppen wie eure in der Wiener Stadtentwicklung?
Elke: Die Stadt Wien ist den letzten 15 Jahren dazu übergegangenen, Baugruppen als strategisches Instrument in der Stadtplanung einzusetzen. Es werden Grundstücke vergünstigt gewidmet, um die es Konzeptwettbewerbe gibt. Die Stadt verspricht sich davon, dass den neu gebauten Stadtteilen durch die engagierten Baugruppen eine gewisse Urbanität und Lebendigkeit verliehen wird. Als Baugruppe muss man allerdings sehr gut darüber informiert sein, wann was ausgeschrieben wird. Außerdem sind die Chancen, solche Wettbewerbe zu gewinnen, deutlich höher, wenn die Gruppe gut aufgestellt ist. Das heißt, es braucht einen Architekten/eine Architektin und eine Idee, was man dort will. Aus dem heraus entsteht die Notwendigkeit, dass es schon eine sehr professionelle Gruppe geben muss, um überhaupt eine Chance zu haben.
Ihr habt den Zuschlag bekommen und wie ging es dann weiter?
Elke: Zu Beginn war nicht klar, ob das Haus gekauft oder mit einer gemeinnützigen Genossenschaft entwickelt werden soll. Interessant war, dass niemand individuelles Eigentum schaffen wollte. Zu dem Zeitpunkt wurde gerade das Modell des Mietshäuser Syndikats auf österreichisches Recht übertragen. Angefangen hat hiermit eine Gruppe aus Linz, die als erste das Konzept des Mietshäuser Syndikats unter dem Namen habiTAT in Österreich realisiert hat. Das war jedoch kein neues Bauprojekt wie unseres, sondern ein Hausprojekt.
„Es bedeutete sich mit Fragen auseinanderzusetzen wie: Welche Vorstellungen vom Leben haben wir?“ (Elke)
Welchen Einfluss hatte dieses Pionierprojekt auf euch?
Elke: Es hat ungefähr ein dreiviertel Jahr gedauert, bis wir nach intensiver Recherche alle Vor- und Nachteile durchdiskutiert hatten. In unserer Gruppe sind viele Leute dabei, die sich vorher wenig mit der Wohnungsfrage oder mit der gesellschaftspolitischen Bedeutung von Wohnen oder Stadtpolitik beschäftigt haben. Letztendlich standen dann aber alle hinter dem Modell des Mietshäuser Syndikats beziehungsweise dem österreichischen Ableger. Es war ein einstimmiger Beschluss, dass wir ein habiTAT Haus werden wollen. Das war auch ein Politisierungsprozess für die ganze Gruppe. Es bedeutete sich mit Fragen auseinanderzusetzen wie: Welche Vorstellungen vom Leben haben wir? Als was betrachten wir Wohnen? Wie können wir absichern, Wohnen nicht als Ware sondern als Menschenrecht zu sehen?
Und dann folgt natürlich, wie in allen Mietshäuser Syndikats-Projekten, eine Phase, in der eine Kampagne gemacht werden muss, um die Gelder zu aquirieren. Da ist es wichtig, die Pionierprojekte zu erwähnen: In Linz haben sie in relativ kurzer Zeit durch eine Kampagne eine Million Euro gesammelt. Das war für uns und unsere Gruppe ein total wichtiger Faktor, zu sehen: „Wow, eine Million Euro!“
Wie seid ihr als Gruppe die Finanzierung angegangen?
Elke: Wir hatten als Ziel gesetzt, 1,5 Millionen Euro über Direktkredite einzunehmen – als Eigenmittel, um von der Bank Kredite zu bekommen. Geworden sind es dann über 1,6 Millionen. Es hat rund ein Jahr gedauert. Ich fand es eine sehr interessante Phase, weil es nicht nur nach außen etwas tut, sondern auch nach innen. Wir haben uns intern mit Workshops, mit einem Quiz zu Fakten rund ums Haus und mit Rollenspielen fit gemacht. So konnten wir alle gut informiert in Gespräche gehen. Dazu haben wir ganz viele Vorträge und Workshops abgehalten und Stände auf Festen, Messen oder Konferenzen gemacht. Es war viel Arbeit, hat aber auch viel Spaß gemacht. Es gibt irgendwann so einen Moment in der Gruppe, der sich von innen anfühlt wie: „Hey, wir knacken das System“. Und es tut nach außen was, weil wir für Wien auch ein Modellprojekt realisieren. Wir wollen zeigen, dass man Wohnen auch anders denken kann, dass auch hohe Qualität zu günstigen Preisen und dass Wohnbaufinanzierung auch anders möglich ist.
Im Frühjahr 2020 habt ihr das Haus dann bezogen. Wer wohnt bei euch und wie divers ist die Gruppe?
Manuel: Die Gruppe besteht aus ca. 30 Erwachsenen und 15 Kindern. Vom Alter her sind wir von Anfang 20 bis Mitte 60. Der Großteil hat schon einen relativ hohen Bildungsgrad. Allerdings ändert es sich langsam. Bei uns gibt es auch eine Wohngemeinschaft, in der Geflüchtete und Auszubildende wohnen. Aus der Fahrradreparaturwerkstatt im Erdgeschoss zieht jetzt ein Lehrling ein. Grundsätzlich gibt es einige Familien, auch Alleinerziehende. Es gibt ein paar Leute mit Migrationshintergrund, allerdings überschaubar.
Spiegelt sich die Diversität von Lebensentwürfen auch in der Architektur wieder?
Manuel: Es war so, dass die Leute, die mitmachen, sich schon ihre Grundrisse selber aussuchen konnten. Darum hat es schon das gespiegelt, was der Bedarf war. Die Wohnungen sind alle relativ klein. Die größte Wohnung ist die WG mit 140 Quadratmetern, die größte Familienwohnung hat 110 Quadratmeter. Die Wohnungen im Dachgeschoss sind eher kleiner und nicht für Familienphasen geeignet. Diversität wurde immer mit diskutiert.
Elke: Wir haben bei uns auch ein Gäste-Appartment fürs Haus. Denn wir haben beschlossen, dass es nicht für jede Wohnung ein Gästezimmer gibt, wo sonst den ganzen Tag der Wäscheständer steht. Das Zimmer steht auch Leuten außerhalb vom Haus zur Verfügung. Wir haben auch einen Gemeinschaftsraum mit einer Küche, der auch für Gäste genutzt wird. Dieser Raum kann auch von außen angemietet werden, Initiativen stellen wir ihn kostenfrei zur Verfügung.
Was passiert noch bei euch im Haus?
Manuel: Unsere Auflage durch die Stadt Wien ist, dass wir den Gewerbebereich im Erdgeschoss für eine Nettomiete von 4 Euro pro Quadratmeter vermieten müssen. Wir haben dort die Radwerkstatt, das ist ein sozioökonomischer Betrieb. Hier werden alte Räder repariert und günstig weiter verkauft und auch zwei Lehrlinge ausgebildet. Auch der Lastenradverleih wird dort organisiert. Das kleine Café im Haus – unser Grätzel-Wohnzimmer [Grätzel = österr. Häuserblock/Kiez; Anm. RS], wo auch Veranstaltungen stattfinden – ist für uns eine wichtige Schnittstelle nach außen und ein guter Ort für das soziale Leben im Haus. Es gibt eine gemeinschaftliche Dachtrasse mit Beeten für Gemüse und Kräuter. Es gibt einen Proberaum und eine Werkstatt. Der Gemeinschaftsraum bei uns war auch in den ersten Tagen Anlaufpunkt für Geflüchtete aus der Ukraine.
Der Name eures Hausprojekts verrät es schon: Ihr habt rund ums Fahrrad bestimmt noch mehr als einen großen Fahrradkeller und eine Radwerkstatt?
Manuel: Das Mobilitätsthema war von Beginn an ein zentrales und wird auch von der Stadt Wien gefördert. Mit dieser Förderung konnten wir als »Cargo-Bande« [Lastenradverleih; Anm. RS] zunächst gemeinsam mit der »Lenkerbande« (dem Fahrradladen aus dem Haus) einen Schwerlastanhänger, ein Christiania und ein Elektrolastenrad anschaffen. Da wir aber mehr Kinder transportieren als Waschmaschinen, haben wir noch ein spezielles Lastenrad zum Transport von Kindern angeschafft.
Es gibt bei uns im Haus eine Rampe, um direkt in der Fahrradkeller zu kommen und auch die Fahrstühle und die Laubengänge sind so breit, dass man direkt mit dem Fahrrad vor die Tür fahren kann. Bei uns im Haus hat niemand ein Auto, was jedoch keine Verpflichtung ist.
Gibt es eine Vernetzung mit eurer Nachbarschaft?
Manuel: Es gibt im Viertel noch andere Initiativen, mit denen wir vernetzt sind. Ein Beispiel für eine gemeinsame Aktion war, dass es bei uns im Viertel eine Fußgängerzone gab, die in eine Spielstraße umgewidmet werden sollte, gegen die wir uns gemeinsam gewehrt haben. Wir haben uns gemeinsam mit den anderen Initiativen organisiert, was die Unterstützung von Geflüchteten betrifft und auch schon gemeinsam Straßenfeste und dergleichen organisiert.
Was von eurer Utopie seht ihr umgesetzt und gibt es noch etwas, wo ihr Abstriche machen müsst?
Manuel: Abstriche musste ich keine machen. Ziel war es nicht ein Haus zu bauen, sondern was mit dem Haus zu machen und ich habe das Gefühl, es geht jetzt gerade erst los. Das ist ein sehr spannender Prozess. Wir haben jetzt eine Hausorganisation, die sehr gut vernetzt und organisiert ist und wir haben diese Ressourcen, um Sachen zu entwickeln und den Lebensraum gemeinsam zu gestalten. Das war mein Ziel.
Elke: Ich finde es total schön, dass wir als Modellprojekt eine neue Form der Organisation und Finanzierung in die Praxis umsetzen. Es gibt jetzt schon andere Projekte, die dem Modell mit dem habiTAT folgen. Das Modell wird bei dem verrückten Immobilienmarkt und den Themen rund um Wohnraum immer interessanter und auch von politischen Entscheidungsträger:innen und der Verwaltung immer ernster genommen. Diese Utopie ist nicht nur ein Beitrag für das eigene Wohnen, die Nachbarschaft und die Stadt, sondern zeigt auch, dass es anders geht und funktioniert.
Interview
Rebecca Sirsch ist stadtpolitisch bei »Stadt für Alle« in Bochum aktiv.
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▷ Hausprojekt »Bikes and Rails«
Titelbild
Ein Teil der Baugruppe vor dem Rohbau (2019) | Foto: © Hannah Mayr