Zum Stand der europäischen munizipalistischen Bewegung
Johannes Krabbe
Ende der 2010er-Jahre war der neue Munizipalismus plötzlich Thema in vielen stadtpolitischen Diskussionen. Aktivist:innen ebenso wie Wissenschaftler:innen griffen den Begriff hoffnungsvoll auf, um eine neue Politisierung von Stadtpolitik und die Bündelung verschiedener Initiativen und Ansätze zu beschreiben. Insbesondere die Strahlkraft einzelner Beispiele wie »Barcelona en Comú« und die aufkommende translokale Vernetzung der munizipalistischen Bewegung, z.B. durch das »Fearless Cities-Netzwerk«, erschien vielversprechend. Auch in der Común erschienen verschiedene Artikel zum neuen Munizipalismus. In den letzten Jahren wurde es jedoch ruhiger. Nicht nur die Pandemie hat die munizipalistische Bewegung ausgebremst, auch interne Konflikte und Rückschläge führten zu einer Verlangsamung. Was ist passiert, und wo steht die europäische munizipalistische Bewegung jetzt?
Der neue Munizipalismus
Der Begriff neuer Munizipalismus dient seit Mitte der 2010er Jahre als Überbau, unter dem sich eine ganze Bandbreite an städtischen sozialen Bewegungen, Nachbarschaftsinitiativen sowie Wahlplattformen und Parteien versammeln. Die verschiedenen Akteure teilen in der Regel einen gemeinsamen Politikansatz: Der neue Munizipalismus sieht die lokale Ebene und damit die lokale Sozialgemeinschaft als Ausgangspunkt für grundlegende politische Veränderungen und zielt auf eine (Re-)kommunalisierung öffentlicher Infrastruktur, die Feminisierung der Politik und eine Demokratisierung des politischen Raums ab. Zudem finden sich konkrete Forderungen zu mehr Klimaschutz und mehr politischen und sozialen Rechten auch für Einwohner:innen ohne Staatsbürgerschaft wieder.
Der neue Munizipalismus zeichnet sich zudem durch einen kreativen Umgang mit lokalen politischen Institutionen aus. Im Gegensatz zu anderen Formen von außerparlamentarischem Aktivismus wird die Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit lokalen Regierungen oder Stadtparlamenten nicht per se vermieden, wenngleich man sich von klassischen Formen der Parteipolitik distanziert. Ziel ist es, lokale Institutionen zu schaffen, die Verbündete sein können für grundlegende sozial-ökologische Veränderungen. Diese Auseinandersetzung mit lokalen Institutionen kann verschiedene Formen annehmen: Beispielsweise bemühen sich in Neapel zivilgesellschaftliche und aktivistische Gruppen erfolgreich um die Etablierung neuer gemeinschaftlicher Institutionen. Durch eine Art Bottom-up-Gesetzgebung wurden unter anderem das »Permanent Civic Observatory of the Commons« und eine neue Rechtsform für Institutionen öffentlichen Nutzens gegründet. In Zagreb hingegen hat sich die munizipalistische Bewegung »Zagreb je NAŠ!« (Zagreb gehört UNS!) mit anderen linken und links-ökologischen Gruppierungen zusammengeschlossen und ist bei den Kommunalwahlen 2021 angetreten. Nach einem Wahlsieg mit mehr als 40 Prozent der Stimmen stellt das Bündnis »Možemo!« nun den Bürgermeister und versucht seitdem von innen heraus lokale Politik zu transformieren. In anderen Städten wählen munizipalistische Akteure jeweils eigene Strategien im Umgang mit bestehenden Institutionen.
Drei Phasen des europäischen Munizipalismus
Die Erfolge der munizipalistischen Bewegung in Europa lassen sich grob in drei Phasen aufteilen. Aktiviert durch die aggressive Austeritätspolitik nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 formierten sich insbesondere im europäischen Süden vielfältige städtische soziale Bewegungen. In Italien begannen sich in Neapel, Messina, Bologna und weiteren Orten über den Protest hinaus städtische Bewegungen zu gründen. Ohne zu dem Zeitpunkt bereits von munizipalistischen Strategien zu sprechen, pflegten sie Organisierungsformen und Zielsetzungen, die viel mit dem neuen Munizipalismus gemein haben. In vielen Städten Italiens konnten sie durch außerparlamentarischen Druck oder die Teilnahme an Kommunalwahlen lokale Politik von links mitgestalten.
Die Entwicklungen in Spanien Mitte der 2010er-Jahre waren Teil der zweiten und einflussreichsten Phase des europäischen Munizipalismus.
Die Entwicklungen in Spanien Mitte der 2010er-Jahre waren Teil der zweiten und einflussreichsten Phase des europäischen Munizipalismus. Ähnlich wie in Italien, aber deutlich koordinierter, formierte sich in Spanien Widerstand gegen die Austeritätspolitik. In verschiedenen Städten schlossen sich Gruppierungen zusammen und bildeten Wahlplattformen wie »Barcelona en Comú«, die 2015 überraschend die Kommunalwahl gewann. Zusammen mit Plattformen in anderen Städten wie Madrid oder Zaragoza wurden die Städte bekannt als »Cities of Change« und standen für einen Aufbruch hin zu neuer progressiver Lokalpolitik. »Barcelona en Comú« wurde international bekannt für die Verzahnung von basisdemokratischem Nachbarschafts-Organizing und institutioneller Realpolitik und propagierte das Jahrzehnt des neuen Munizipalismus weit über Spanien hinaus.
Während die spanischen munizipalistischen Ansätze seit 2019 wieder an Einfluss verloren haben, treten in den letzten Jahren verstärkt Bewegungen in Südosteuropa unter dem Slogan des Munizipalismus auf. Neben Zagreb hat auch in Belgrad eine munizipalistische Initiative den Weg in das Stadtparlament gewählt. »Ne davimo Beograd« ging ursprünglich hervor aus dem Widerstand gegen ein prestige-trächtiges Stadterneuerungsprojekt. (vgl. auch Común No. 6) Bei der Kommunalwahl im Frühjahr 2022 hat sie als Mitglied der links-grünen Koalition »Moramo!« (Wir müssen!) einen Achtungserfolg erzielt und hofft nun auf eine Wiederbelebung des neuen Munizipalismus in Europa.
Translokale Vernetzung
Zentral für den neuen Munizipalismus war von Beginn an die translokale Vernetzung verschiedener städtischer Bewegungsakteure. Der Begriff „translokal“ verweist hierbei darauf, dass es nicht darum geht, auf nationaler oder internationaler Ebene verschiedene politische Gruppierungen zu bündeln. Vielmehr wird versucht, über den lokalen Kontext hinaus Politik zu machen, ohne dabei die lokale Verortung zu verlieren. Der neue Munizipalismus sieht sich als Gegenmodell zu einer nationalstaatlich basierten politischen Ordnung. An dessen Stelle treten autonome lokale Akteure, die gleichberechtigt über ihren jeweiligen Kontext hinaus zusammenarbeiten. Der neue Munizipalismus wird daher als strategischer Ausgangspunkt für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen jenseits des konkreten lokalen Raums gesehen: Er stellt die Frage, wie ein neuer Internationalismus aussehen könnte, der sich von Nationalstaaten als Ordnungsprinzip verabschiedet und die Bündelung lokaler Kämpfe in den Vordergrund stellt.
Translokale Zusammenarbeit war und ist daher essenzieller Teil von munizipalistischem Aktivismus. 2017 fand das erste Treffen des »Fearless Cities«-Netzwerks in Barcelona statt. Über 700 Aktivist*innen aus der ganzen Welt und verschiedenen munizipalistischen Kontexten diskutierten an drei Tagen über munizipalistische Strategien, Erfahrungen und Herausforderungen. Das von »Barcelona en Comú« organisierte Treffen gilt als „Coming-out-Party“ für die globale munizipalistische Bewegung und war eine enorm bestärkende Erfahrung für alle Teilnehmenden. Auch Beobachter:innen schrieben in den folgenden Monaten hoffnungsvoll vom Anfang einer globalen Allianz progressiver Stadtverwaltungen und sozialer Bewegungen. Spätere »Fearless Cities«-Treffen fanden in Warschau, New York, Neapel und Belgrad statt; zuletzt gab es ein Treffen im Oktober 2022 in Rosario, Argentinien.
Wo ist die positive Energie?
In Europa hat die translokale Zusammenarbeit in den letzten Jahren allerdings an Momentum eingebüßt. Offenkundig hat die Pandemie die translokale und sogar die lokale Zusammenarbeit in vielerlei Hinsicht erschwert. 2021 fand online zwar eine weitere »Fearless Cities«-Konferenz statt; im selben Jahr gab es zudem das auch online stattfindende »Cities for Change«-Forum, was von Amsterdam aus organisiert wurde und viele munizipalistische Themen aufgriff. Die digitalen Vernetzungsmöglichkeiten machen den inhaltlichen Austausch auch über weite Distanzen hinweg für viele (aber nicht alle) einfacher. Sie können aber nicht das Wir-Gefühl (re-)produzieren, was von großen physischen Treffen ausgeht. Aktivist:innen aus anderen Städten jenseits eines begrenzten digitalen Austausches tatsächlich kennenzulernen, ist zentral für den Aufbau von nachhaltigen Verbindungen.
Gleichzeitig hat der neue Munizipalismus in den letzten Jahren eine Verschiebung von einem aktivistischen zu einem zunehmend akademischen Konzept durchgemacht. Viele der munizipalistischen Bewegungen und Initiativen, unter anderem in Spanien, haben sich seit 2019 wieder aufgelöst, während in Zentral- und Nordeuropa nur wenige Gruppierungen sich explizit dem neuen Munizipalismus zugehörig fühlen. Obwohl in Deutschland verschiedene Initiativen Strategien verfolgen, die sich durchaus als munizipalistisch einordnen ließen (u.a. »Deutsche Wohnen & Co enteignen«), scheint der Begriff im deutschen Bewegungsdiskurs eher eine Nebensache zu sein. Parallel dazu wächst das Feld an Wissenschaftler:innen, NGOs und Think-Tanks, die sich mit dem neuen Munizipalismus befassen. Die Zunahme von wissenschaftlichen Fachbeiträgen zum neuen Munizipalismus verläuft nicht parallel zur Entwicklung der munizipalistischen Praxis „on the ground“.
Nicht zuletzt hat auch »Fearless Cities« selbst an Attraktivität verloren.
Nicht zuletzt hat auch »Fearless Cities« selbst an Attraktivität verloren. Gegründet von »Barcelona en Comú« bei dem fulminanten Start 2017 hat sich das Netzwerk in den folgenden Jahren zu einer zentralisierten Struktur versteift. Aktivist:innen von anderen munizipalistischen Initiativen, insbesondere aus Spanien, empfanden den Einfluss von »Barcelona en Comú« als zu groß, konnten aber der Plattform gegenüber nicht mehr Mitspracherechte durchsetzen. Schließlich ließ »Barcelona en Comú« auch Namen und Logo des Netzwerkes markenrechtlich schützen. Diese Zentralisierung und Vereinnahmung stieß auf Unzufriedenheit von Aktivist:innen anderer Initiativen, die sich eine gleichberechtigtere Ausgestaltung des sich im Aufbau befindenden Netzwerkes erhofft hatten.
European Municipalist Network
Als Reaktion auf die Zentralisierung von »Fearless Cities« gründete sich bereits 2019 das »European Municipalist Network (EMN)«. Das EMN organisierte bisher keine groß angelegten Veranstaltungen wie »Fearless Cities«, sondern konzentriert sich in erster Linie auf ein digitales Programm: Es hat eine Reihe von Webinaren über munizipalistische Erfahrungen organisiert, eine digitale Kartierung und Visualisierung von munizipalistischen Initiativen in Europa entwickelt und ein Projekt zur Feminisierung der Politik umgesetzt. Im Oktober 2022 trafen sich rund 25 Personen aus verschiedenen munizipalistischen Kontexten, um über die weiteren Schritte des Netzwerkes zu diskutieren. Geplant ist für 2023 u.a. eine Reihe von Skillsharing-Sessions für Bewegungen und Initiativen, die zu bestimmten munizipalistischen Themen Erfahrungen und best practices aufbereiten und für Bewegungsakteure nutzbar machen sollen.
Das EMN ist allerdings bisher noch nicht in der Lage, die Anfangseuphorie von »Fearless Cities« wieder aufzugreifen und fortzuführen. Die Akademisierung des neuen Munizipalismus hat auch vor dem Netzwerk nicht Halt gemacht. Viele der aktiven Mitglieder des EMN sind Wissenschaftler:innen oder arbeiten für Think Tanks oder NGOs. Das EMN schafft Räume, um über munizipalistische Strategien nachzudenken und bereitet Erfahrungen und Strategien für Aktivist:innen auf, zielt im Moment aber nicht auf eine großflächige Vernetzung der europäischen munizipalistischen Bewegung ab.
Wie weiter?
Wie also wird aus einer Vielzahl progressiver stadtpolitischer Bewegungen ein über den lokalen Kontext hinauswirkender Transformationsimpuls? Das erste »Fearless Cities«-Treffen 2017 brachte so viele Aktivist:innen zusammen, dass sich die oft marginal anfühlenden lokalen Kämpfe plötzlich als Teil in ein großes Ganzes einfügten. Romy Krämer schrieb nach dem Treffen für den Blog der Guerilla Foundation, „Togetherness“ sei das dominante Gefühl auf dem Treffen gewesen. Während »Fearless Cities« den Fokus zuletzt auf Lateinamerika verschoben hat, arbeitet das EMN derzeit an ein Professionalisierung munizipalistischer Strategien. Sie tragen Erfahrungen zusammen und machen diese für andere Initiativen zugänglich. Spannend wäre es, in Zukunft diese beiden Stränge wieder stärker zusammen zu bringen: Wissenschaft und NGOs sollen zusammen progressive Konzepte entwickeln und sie mit lokalen Bewegungen diskutieren. Zugleich entstehen damit Vernetzungsräume mit stadtpolitischen Initiativen aus ganz Europa und die beiden Stränge würden wieder Teil eines gemeinsamen munizipalistischen Projekts. Denn das Credo des neuen Munizipalismus bleibt dasselbe wie in der Zeit der Anfangseuphorie: Weitreichende gesellschaftliche Veränderungen sind dann möglich, wenn sie lokal organisiert aber translokal verbunden werden und so die Überwindung der Verhältnisse im Gesamten in den Blick nehmen. Gerade in Zeiten einer Re-Nationalisierung politischer Verhältnisse und einer immer weiter wachsenden Entfremdung der Bevölkerung von nationalen und internationalen politischen Institutionen besteht so die Hoffnung, Menschen mit munizipalistischen Ansätzen für tiefgreifende sozial-ökologische Transformationsprozesse begeistern zu können.
Autor
Johannes Krabbe hat sich für seine Masterarbeit an der Uni Kassel empirisch mit translokalen Praktiken der munizipalistischen Bewegung beschäftigt. Er lebt in Berlin und ist aktiv im Kiezteam Mitte von »Deutsche Wohnen & Co enteignen«.
Weiterlesen
▷ Común #1/2019: Der neue Munizipalismus: Regieren für ein Recht auf Stadt (Kuno Zscharnack)
▷ Común #3/2020: Ne Da(vi)mo Beograd – Fearless Cities auf Serbisch (Norma Tiedemann)
▷ Común #3/2020: Die Revolution der Städte: Murray Bookchins Theorie des neuen Munizipalismus (Janika Kuge)
▷ European Municipalist Network
▷ Fearless Cities
Titelillustration
Rainer Midlaszewski